Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
dem Werwolf aus einer verfälschten Quelle übernommen. – Ich frage mich, wie die von Ihnen gewünschte Entmachtung der Eliten hätte durchgesetzt werden sollen. Solche Prozesse brauchen ihre Zeit. Mitte der zwanziger Jahre sah es eigentlich ganz gut aus, es waren Jahre relativer Stabilität. Die Reichswehr – da haben Sie schon recht – war überwiegend antidemokratisch, aber sie hielt sich ruhig und legte es nicht auf einen Putsch an. Nach der Wahl Hindenburgs 1925 wurde sie sogar beinahe staatstreu. Erst mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde die Situation dramatisch.
FISCHER Die materiellen Grundlagen weiter Teile des deutschen Bürgertums waren schon in der Hyperinflation 1923 vernichtet worden. Diese Hyperinflation ist von der Reichsbank initiiert worden, um die innerdeutschen Kriegsschulden loszuwerden. Das war nicht das Ergebnis von irgendwelchen finsteren Mächten, sondern es war eine bewusste Entscheidung. Die wussten sehr genau, was sie taten.
STERN Das fing schon im Krieg an. Die Finanzierung der Kriegskosten folgte dem Prinzip: Wenn die Alliierten den Krieg verlieren, dann können sie den Krieg auch bezahlen. Die große Inflation 1923 unterstand derselben Logik, Schulden tilgt der Staat nun einmal durch Geldentwertung.
FISCHER Dieser materielle Absturz war eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass das kaisertreue Bürgertum dann später den Nazis hinterherlief. Das war nicht Versailles. Versailles ließ sich rhetorisch jedoch sehr gut nutzen, nicht nur von den Rechten, auch von den Linken. Denken Sie an den Mythos vom Ruhrwiderstand.
STERN Das war kein Mythos, Joschka. Ich bleibe dabei: Wie auch immer man den Versailler Vertrag als solchen beurteilen mag, für Hitlers Aufstieg spielte er eine ganz entscheidende Rolle, das ist gar keine Frage. Ausschlaggebend für den Erfolg der Nazis war am Ende aber die große Wirtschaftskrise 1929/30. In den Wahlen gleich nach der Inflation 1923 waren die Nazis noch unbedeutend.
FISCHER Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns an Versailles kontrovers festhängen. Lassen wir mal die Schuldfrage für einen Moment beiseite. Wenn man sich das europäische Staatensystem nach Beendigung des Ersten Weltkrieges anschaut, muss man feststellen, dass es im Wesentlichen garantiert wurde durch die zwei europäischen Hauptmächte Frankreich und Großbritannien. Russland war durch die bolschewistische Revolution draußen, Amerika war kurz drin, ging dann wieder raus, Österreich gab es als Macht nicht mehr, Italien ging einen ganz eigenen Weg. Aus der nachnapoleonischen Pentarchie war ein erschöpftes Duett geworden. Aber Frankreich und Großbritannien, auf denen dieses neue europäische Staatensystem ruhte, waren nicht in der Lage, Deutschland einzubinden, oder besser gesagt, ruhig zu stellen.
STERN Entscheidend ist: Die beiden «Siegermächte» waren selber ungeheuer geschwächt und meist von gegenseitigem Misstrauen erfüllt. Trotzdem wurde Deutschland 1926 mit dem Vertrag von Locarno in das europäische Staatensystem einbezogen, 1930 wurde das Rheinland sogar vorzeitig von den alliierten Truppen geräumt, 1932 wurde auf der Konferenz von Lausanne die Reparationsfrage abschließend geklärt. Man kann nicht sagen, dass Deutschland nicht eingebunden gewesen wäre, es gab viele Fortschritte.
FISCHER Letztendlich besaß dieses Deutschland aber die Kraft zur Revision. Und die Revision wollte man. Zumindest im Osten.
STERN Aber man hätte es nicht militärisch erzwingen können. Das hing mit der Geschichte der Deutschen im Osten zusammen, mit dem schwierigen Verhältnis zur polnischen Minderheit in Preußen, mit gewachsenen deutschen Befindlichkeiten. Das kann man nicht den Siegermächten anlasten.
FISCHER Vom Standpunkt der internationalen Politik betrachtet, wurde das europäische Staatensystem durch das Entstehen eines industriell-militärischen nichtdemokratischen Kolosses in der Mitte des Kontinents entscheidend erschüttert.
STERN Sie meinen jetzt die Reichsgründung 1871?
FISCHER Ja, 1871. Aber nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hätte man diesen Fehler unbedingt rückgängig machen müssen. Stattdessen blieb man mit dem Versailler Vertrag genau in der Mitte stehen, formulierte harsche Bedingungen, die aber das Problem nicht wirklich begrenzt, sondern in Richtung Revision eskaliert haben, und ließ die Deutschen weiter gewähren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage völlig
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