Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
anders: Die nationale Katastrophe war komplett, und es gab jetzt ein ganz anderes Staatensystem, nicht mehr ein europäisches, sondern ein globales mit dem zentralen Kampfplatz Europa. Dass auf der einen Seite das russische Imperium, also die Sowjetunion, auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten von Amerika standen, hat eine völlig neue Ausrichtung ermöglicht. – Ich habe bei meiner Aufzählung der negativen Eigenschaften der damaligen deutschen Eliten – antidemokratisch, extrem nationalistisch, revisionistisch – übrigens eine ganz besonders schlimme Eigenschaft vergessen. Sie waren auch antisemitisch, und die Krise Deutschlands hat zu einem gewaltigen Anstieg des Antisemitismus geführt.
STERN Enorm verstärkt im Ersten Weltkrieg. Die berühmte «Judenzählung» vom November 1916, die den Nachweis erbringen sollte, dass Juden «Drückeberger» und Feiglinge seien, erwies das Gegenteil und wurde daher geheim gehalten. Sie war vom preußischen Kriegsminister auf Druck der organisierten Antisemiten im Heer und in der Öffentlichkeit veranlasst worden – das war nichts anderes als eine staatlich angeordnete Diskriminierung der deutschen Juden.
FISCHER Ja. Alle Zahlen und Statistiken, dass der Anteil der jüdischen Soldaten bei den Gefallenen und Kriegsopfern über dem Bevölkerungsanteil lag, konnten nichts dran ändern, dass die Juden als Feiglinge galten. Offenbar brauchte man in der Krise ein Hassventil …
STERN Einen inneren Feind. Der politische und soziale Antisemitismus steigt 1917/18, also in der Endphase des Krieges, enorm an. Es gab ihn selbstverständlich auch vorher, aber gerade in den Führungsschichten begegnet er gegen Ende des Krieges immer häufiger. Und die Niederlage wurde dann gänzlich verbunden mit dem Aufstieg der Juden, zumal im öffentlichen Leben. Rathenau war für dieses Zerrbild gewissermaßen die Identifikationsfigur.
FISCHER Wie erklären Sie sich diese Radikalisierung des Antisemitismus?
STERN Es hilft, einen Blick nach Frankreich zu werfen. Der Antisemitismus in Frankreich vor 1914 war viel unverhohlener und schärfer als in Deutschland. Aber es gab Gegenkräfte, Leute wie Jean Jaurès, Emile Zola mit seinem berühmten «J’accuse» und eine breite republikanische Öffentlichkeit, die den Antisemitismus ablehnte. Es gab auch ehrliche Konservative in der Armee wie Marie-Georges Picquart, der bei allen Vorurteilen gegen Juden die Lügen in der Armee aufdeckte. Übrigens hat die Erinnerung an die Dreyfus-Affäre noch das Vorgehen der Vichy-Regierung gegen die Juden bestärkt. In der Dreyfus-Affäre ergriffen zahlreiche Republikaner das Wort, denen die Verteidigung der französischen Bürgerrechte über alles ging. Die Bürgerrechte hatten für sie absoluten Vorrang vor der Frage der Religionsgemeinschaft. Dieses Denken fehlte in Deutschland, jedenfalls in der Breite.
FISCHER Es war wohl auch nach 1945 nicht besonders stark verbreitet. Man hat bisweilen den Eindruck, dass viele weiterhin in den Kategorien der Nürnberger Rassengesetze dachten, statt den Grundwertekatalog des Grundgesetzes zu bemühen. Ich denke an die emigrierten Juden, die nach dem Krieg zurückkehren wollten. Der Mehrheit der Deutschen war das unangenehm. Ihre Rechtfertigung «Wir haben von nichts gewusst» wäre durch die Rückkehr der Emigranten ja schnell widerlegt worden. Aber abgesehen davon, dass sie nicht mit Vorwürfen konfrontiert werden wollten, spielte eben doch auch eine Rolle, dass diese Generation zutiefst durchtränkt war von dem Antisemitismus der Nazizeit.
STERN Ich habe das so nicht empfunden. Aus eigener Erfahrung kann ich weder ein defensives Verhalten der Eliten bestätigen noch eine antisemitische Grundstimmung.
FISCHER Schauen Sie, Fritz. In meiner Kindheit bin ich seitens der Schule oder anderer öffentlicher Institutionen niemals mit Antisemitismus konfrontiert worden. Aber es gab da die zweite, inoffizielle, mehr private Ebene, auch in der Schule, und da war das anders. Das macht für mich das Zwielichtige an der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre aus. Und es gab so etwas wie einen dumpfen Abwehrreflex unter den Eliten. Die wollten einfach nicht mit dem Vorwurf konfrontiert werden, versagt zu haben.
STERN Sie wollten nicht mit ihrer Scham konfrontiert werden.
FISCHER Scham. Da wo Scham ist, ist oft auch Wut. Der eine oder andere wird schon Wut empfunden haben. Hinzu kam, dass viele der
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