Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Frankreich hätten eingreifen können?
STERN Im März 1936.
FISCHER Besetzung des Rheinlands?
STERN Ja, März 1936. Der Einmarsch in die entmilitarisierte Zone war ein klarer Bruch des Vertrags von Locarno, den die Deutschen freiwillig unterzeichnet hatten. Wenn man da einmarschiert wäre …
FISCHER Womit Hitler gerechnet hat?
STERN Nein, womit die Generäle gerechnet haben. Hitler nicht, Hitler glaubte, er würde mit dem Bluff durchkommen. Aber die Generäle konnten sich nicht vorstellen, dass die Franzosen das hinnehmen würden. Die Franzosen steckten in einer innenpolitischen Krise und schoben die Verantwortung an die Engländer weiter, und die Engländer waren in so einer Stimmung: «Let’s not be beastly to the Germans». Kann man es den Deutschen übel nehmen, dass sie in ihr eigenes Land einmarschieren? Das gehört ihnen doch. Die Schwäche des Westens lag in der Unfähigkeit, sich auf eine gemeinsame Politik der Härte zu verständigen. Das wurde noch schlimmer, als im Juni 1936 Leon Blum Premier wurde. Erst als die Wehrmacht am 15. März 1939 Prag besetzte, sind die Chamberlain-Leute aufgewacht, das ist gar keine Frage. Da kamen sie sogar auf die Idee, eine Allianz mit Russland einzugehen. Da ist ihnen aufgegangen, mit wem sie es zu tun hatten. Und da war es zu spät. Da muss ich Ihnen noch einen Witz erzählen: Als Chamberlain im September 1938 von München abflog, wurde er von allen Seiten beglückwünscht. Auch deutsche Diplomaten gratulierten und sagten ihm, wie glücklich sie seien, dass er gekommen ist und der Frieden erhalten wurde. Ob er zur Erinnerung nicht seinen Regenschirm dalassen könne. Und da sagte Chamberlain: «No, that’s mine!» Also, die Tschechoslowakei könnt ihr haben, aber nicht meinen Regenschirm.
FISCHER Ein bitterer Witz!
STERN Ein sehr bitterer Witz. Aber gute Witze sind meist bitter. Das Unglück bei mir ist, dass ich mich an solche Witze gut erinnern kann, aber an vieles andere nicht.
FISCHER Bei mir ist es umgekehrt. Ich liebe Witze, aber ich kann sie nicht erzählen, weil ich meist die Pointe verfehle.
III Europa braucht Führung
STERN Sie haben gesagt, Europa definiert sich nicht mehr militärisch. Das ist sicher eines der Resultate des Zweiten Weltkriegs. Ein amerikanischer Historiker, Jim Sheehan, hat diesen Gedanken ins Grundsätzliche gewendet. Die Erfahrung der beiden Kriege und die enormen Opfer, die Europa bringen musste, hätten seine Zivilgesellschaften faktisch so kriegsunwillig gemacht, dass die Kraft für eine neue, entschiedene Militarisierung nicht mehr da sei. Deshalb fehle auch jedes Engagement für eine europäische Streitmacht. Die Gesellschaften würden die dafür notwendige Aufrüstung nicht mittragen und die Bereitstellung der Mittel verweigern.
FISCHER Ja und nein. Ja, was eine Remilitarisierung der Gesellschaften betrifft. Nein, was den Beitrag Europas zu seiner eigenen Sicherheit betrifft. Zudem haben die europäischen Mächte als Weltmächte schon längst abgedankt. Wenn Sie das Budget an amerikanischen Maßstäben oder neuerdings auch an chinesischen Maßstäben messen, fällt Europa natürlich weit zurück. Aber je stärker dieses Europa sich politisch vereinigt, desto notwendiger wird auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik – vermutlich sehr viel früher als viele meinen –, und die schließt ein stärkeres militärisches Engagement mit ein. Denn mit Europas Rolle in der Welt wächst auch die Verantwortung, die dieses stärkere Europa zu übernehmen hat. Und die USA orientieren sich mehr Richtung Pazifik und haben selbst genug Probleme zu Hause zu lösen. Die Entwicklung, die Sie eben geschildert haben, sehe ich auch. Für mich ist sie allerdings eher Ausdruck der Schwäche und der Ineffizienz der klassischen europäischen Nationen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts.
STERN Auf der anderen Seite ist der Gedanke, dass es zu einem Krieg der europäischen Nationen untereinander nicht mehr kommen kann, ein Riesenfortschritt.
FISCHER Weil wir keine Großmächte mehr haben. Wir tun zwar noch so …
STERN Nein, ich meine generell. Ein europäischer Krieg in dem Sinne, wie es sie jahrhundertelang gegeben hat, ist heute nicht mehr denkbar. Das ist ein tiefer historischer Wandel. Aber der Preis dafür ist gewissermaßen die Ohnmacht Europas.
FISCHER Nein, es hängt allein von den Europäern ab, was sie aus ihrer Befriedung machen. Ich will Ihre
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