Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
immer, aber oft in Krisensituationen beruhigend. Ein sich vereinigendes Europa würde über diverse Eingreifmöglichkeiten verfügen, aber darüber zu entscheiden, wäre sehr schwierig. Bei uns gibt es den Einsatzvorbehalt etwa durch den Deutschen Bundestag. An erster Stelle kommt daher die Politik, denn ohne politische Einigung im Vorfeld kann man jeden Einsatz vergessen.
STERN Ich könnte mir vorstellen, dass es irgendwann eine europäische militärische Eingreiftruppe gibt, die stark genug ist, auch ohne Amerika zu intervenieren. Amerika hat sich in drei Kriege involviert: Jetzt fehlen die Mittel und der politische Wille. Daher ist auf Amerika nicht immer Verlass.
FISCHER Ja. In Zukunft wahrscheinlich weniger denn je.
STERN Und zwar allein schon aus Sachzwängen. Denken Sie an das riesige Haushaltsdefizit. Die Ressourcen und damit auch die militärischen Möglichkeiten der USA werden kleiner, und der Bedarf im Pazifik wird größer. Darauf wird Europa reagieren müssen. An und für sich war die Aussicht auf ein gemeinsames Europa für die Amerikaner eine sehr erfreuliche Perspektive, die sie versucht haben zu stärken. Wenn die jetzige Beschäftigung Amerikas mit sich selbst dazu führt, dass Europa doch noch stark genug werden sollte, um eine gewisse Unabhängigkeit zu gewinnen, dann wäre das so etwas wie eine List der Geschichte.
FISCHER Wir befinden uns in einem Augenblick, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Weltfinanzkrise zugleich als eine Krise des Westens gesehen wird. Amerika erlebt einen relativen Niedergang. Europa scheint unfähig, seine Probleme zu lösen. Das sind nach wie vor die beiden größten Märkte, aber sie strahlen nicht das Selbstbewusstsein aus, das die aufstrebenden Volkswirtschaften der so genannten Schwellenländer ausstrahlen. Wir befinden uns in einer Phase, in der die westliche Hegemonie, also die nordatlantische Hegemonie Europa-USA, endgültig zu Ende geht. Wir erleben eine «Entwestlichung», einen Transfer von Macht und Reichtum in andere Weltregionen, vor allen Dingen nach Ostasien, und wenn sich Europa hier nicht beeilt, dann war’s das wirklich. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass die USA in Zukunft mehr mit sich selbst beschäftigt sein werden. Ich bin überzeugt, dass die USA ihre Probleme perspektivisch lösen werden, aber es wird dennoch ein relativer Abstieg sein im Verhältnis zu anderen großen Mächten. Das heißt, die USA werden pazifischer sein, sie werden egozentrischer sein. Hinzu kommt die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung, die sich langsam spürbar durchsetzt.
STERN Die Politik der USA könnte sich von der bisherigen Politik, die in keiner Weise fehlerfrei war und über die man oft, gerade unter Bush, zu klagen hatte, lösen und in eine viel isolationistischere Richtung gehen. Und sie könnte sich gegenüber multilateralen Organisationen wie den UN noch mehr absetzen. Auch Amerika ist konfrontiert mit grundsätzlichen Fragen. Ob wir reif genug sind, die notwendige Debatte zu führen, bezweifle ich leider. Die Verdummung und der Rückzug auf das Private haben weit um sich gegriffen.
FISCHER Und da ist die Frage, wer kümmert sich um uns in Europa? Auf Russland würde ich nicht hoffen. Die Chinesen haben ein gutes Gedächtnis. Die haben nicht vergessen, dass die Europäer im 19. und 20. Jahrhundert eine nicht eben freundliche Politik gegenüber China betrieben haben. Es gibt nur eine Antwort: Die Europäer müssten jetzt ganz schnell erwachsen werden und wie erwachsene Menschen agieren.
STERN Um das schöne Wort zu benutzen, sie müssten mündig werden.
FISCHER Mündig werden, ein sehr guter Begriff! Aber stattdessen zieht man es vor, selbst wenn man ziemlich ausgewachsen ist, im Sandkasten sitzen zu bleiben, sich gegenseitig mit dem Schäufelchen auf den Kopf zu hauen und dem anderen die Sandfiguren zu zerstören. Die innereuropäischen Hakeleien spielen nach wie vor eine gewaltige Rolle. Es kommt keiner mal auf die Idee zu sagen, Freunde, wir beenden diese Frage, ob der Euro überlebt oder nicht, indem wir erklären, wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern und Brüdern. Haben Sie das schon mal gehört? Nein. Weil jeder sagt, oh, das könnte aber zu teuer werden.
STERN Es sieht ganz danach aus, als ob sich an der Finanzkrise tatsächlich die Zukunft Europas entscheidet. Aber auch in Amerika ist die wachsende Rolle der Finanzwirtschaft gegenüber der Politik besorgniserregend.
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