Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
den Apparat dreißig Jahre vor Ihnen die gleiche Grundsatzentscheidung getroffen: Wir rühren da nicht dran, wir lassen im Prinzip alles so, wie es ist.
FISCHER Und zu Willy Brandts Zeiten saßen noch ein paar ganz finstere Gestalten im Amt!
STERN Aber statt sie rauszuwerfen und einen Eklat zu provozieren, schob er sie lieber aufs Abstellgleis. So entsprach es ja auch seiner politischen Grundhaltung: Wenn wir die Demokratie wirklich verwurzeln wollen, dann dürfen wir nicht ständig nachrechnen.
FISCHER Da ist ja auch was dran, ich kritisiere Willy Brandt nicht. Einmal musste ich, um einem Pulk von Journalisten zu entgehen, den Weg durch die Protokollabteilung des Amtes nehmen und sah da den Protokollchef von Ribbentrop in der Ahnengalerie hängen. Da ließ ich den zuständigen Staatssekretär zu mir kommen und den Abteilungsleiter und fragte sie, was das denn zu bedeuten habe. «Das ist so üblich», war die Antwort. «Ich dachte, es geht mit der Neugründung des Amtes los», sagte ich. «Aber wenn es so ist, bin ich gern bereit, auch die Ministergalerie zu erweitern. Dann hängen wir alle auf, Ribbentrop allerdings mit einem Bild, das ihn am Strang zeigt.»
STERN Hat Willy Brandt als einer Ihrer Vorgänger für Sie eine Rolle gespielt, als Sie das Auswärtige Amt übernahmen? Er war ja der einzige Außenminister, der nicht aus den Reihen von CDU oder FDP kam.
FISCHER Eine sehr große sogar, durchaus ein Vorbild. Sein Bild von Andy Warhol hing über viele Jahre hinweg in meinem Büro im AA. Ich bewundere Willy Brandt noch heute für seine Ostpolitik. Adenauer stand für die deutsch-französische Aussöhnung und die Westintegration, eine historische Leistung. Aber erst später begriff ich, dass es noch mehr Mut erforderte, die polnische Westgrenze anzuerkennen, und das war Willy Brandts große historische Leistung. Übrigens war ein Auftritt von Willy Brandt auf dem Marktplatz in Esslingen die erste Wahlveranstaltung, zu der ich überhaupt gegangen bin, ich glaube 1964. Ich stand ziemlich weit hinten, es regnete, und man sah vor lauter Schirmen nicht viel. Aber die Stimme ist mir in Erinnerung. Und dann sind mir natürlich diese giftigen Vorwürfe in Erinnerung: uneheliches Kind …
STERN Emigrant.
FISCHER Auf Brandts Emigration spielte Adenauer in infamer Weise immer wieder an: Niemand wisse so genau, was «Brandt alias Frahm» in norwegischer Uniform drei Jahre lang getrieben habe. In diesen Zusammenhang gehört auch das Zitat von Franz Josef Strauß aus dem Wahlkampf 1961, man werde den Herrn Brandt doch noch fragen dürfen, was er eigentlich zwölf Jahre draußen gemacht habe – «wir wissen, was wir drinnen gemacht haben». Das hätte Strauß zehn Jahre später nicht mehr so gesagt, aber 1961 war das ein sehr wirksamer Vorwurf an die Adresse von Brandt.
STERN Hat ihn wohl auch sehr geschmerzt.
FISCHER Das sollte es ja auch. Es waren die gleichen Stereotypen, die schon die politische Rechte von Weimar rhetorisch wirkungsvoll eingesetzt hatte.
STERN Aber seine Wahl, ich meine Brandts triumphalen Wahlsieg von 1972, war die …
FISCHER War die Zäsur.
STERN War die Zäsur. Und war das Ende von Hitler, wie auch Brandt selbst es empfand und ausdrückte.
FISCHER Das war mehr als das Ende von Hitler. Die deutsch-polnischen Verträge gingen viel weiter zurück. Mit der Anerkennung der Grenzen wurde eine Feindschaft beigelegt, die im Grunde Jahrhunderte zurückreichte. Und deswegen, meine ich, kann man die Größe Brandts in unserer Geschichte nicht hoch genug veranschlagen, weil er den Mut hatte, unter wirklich enormem Druck, den deutsch-polnischen Grenzvertrag auf den Weg zu bringen. Was dazu geführt hat, dass er nur umso mehr angefeindet wurde.
STERN Und dann noch der Kniefall in Warschau!
FISCHER Ich meine, Willy Brandt war ein sehr großer Kanzler, gemeinsam mit Adenauer einer der beiden Gründerväter unserer Republik, was deren Grundlagen betraf. Und atypisch, weil aus meiner Sicht die Kanzler der Bundesrepublik Deutschland alle als leere Bücher begannen, die erst durch ihre Amtszeit den Text verfassten. Bei Brandt – und Adenauer – war das anders.
STERN Er war – ähnlich wie Adenauer, aber auf ganz andere Weise – auch noch sehr stark geprägt durch die deutsche Geschichte.
FISCHER Ja, und die deutsche Teilung hat die deutsche Geschichte aktuell gehalten. Die Erfolge seiner Kanzlerschaft
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