Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
auch viele fragwürdige Dinge, und er verfügte über einen autoritären Grundbass in seiner Politik. Hinzu kam eine große Fehleinschätzung der außenpolitischen Möglichkeiten und Grenzen der Bundesrepublik. Etwa die Nichtanerkennung des Atomwaffensperrvertrages, den er als ein Super-Versailles bezeichnete. Dabei stand bei ihm im Hintergrund kaum Revisionismus, sondern die Vorstellung, dass Macht im 20. Jahrhundert nuklear definiert wird. Und da sollte Deutschland seiner Meinung nach dabei sein, was irreal und ein großer Fehler war.
STERN Das war ja nicht falsch. Aber die Welt hätte ich sehen wollen, die ein nuklear aufgerüstetes Deutschland akzeptiert! Das hätte es nicht gegeben. Was das für Europa und für Deutschland bedeutet hätte! Für viele war es schon schwer genug, die Wiederbewaffnung zu schlucken.
FISCHER Ich stimme Ihnen voll zu, aber die Amerikaner wollten es damals.
STERN Der größte Teil der Amerikaner wollte es. Für die Franzosen war es eigentlich inakzeptabel. Die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG war im Grunde der Versuch, die deutsche Wiederbewaffnung auf diesem Wege zu kontrollieren. Es gab viele Amerikaner, die den Gedanken einer europäischen Armee begrüßten; außerdem war es der Versuch, ein wiederbewaffnetes Deutschland in Europa einzugliedern. Damit hätte sich auch die europäische Idee viel tiefer im Leben der Nationen verwurzeln lassen. Immerhin kam es nach dem Scheitern der EVG zu einer guten, wenn auch nur noch pragmatischen Lösung im Rahmen der NATO.
FISCHER Richtig. Aber die Angst, dass die Deutschen auf dem Marsch durch die europäischen Institutionen am Ende wieder als Hegemonialmacht in Erscheinung treten, besteht bis heute. Heute sogar mehr denn je, vergessen wir das nicht.
STERN Macht wird heute nicht mehr nur militärisch definiert.
FISCHER Europa definiert sich generell nicht mehr militärisch, die Deutschen vorneweg. Aber der Verdacht gegen die Deutschen, sie strebten die Vorherrschaft in Europa an, ist deshalb nicht verschwunden. Ganz besonders kritisch sind die Briten; da spielen die alten britischen Instinkte, auf dem Kontinent keine Hegemonialmacht zuzulassen, eine wichtige Rolle.
STERN Womit wir wieder bei der Frage des Kriegsausbruchs 1914 wären. Da schließt sich der Kreis dieses Themas.
FISCHER Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine Frage an den Historiker. Das Münchener Abkommen 1938 wird immer als der zentrale Dreh- und Angelpunkt gesehen, als die Fast-Kapitulation des Westens. Die Frage, die ich eigentlich schon lange wälze: Begann es nicht viel früher, nämlich mit dem Putsch Francos und dem Spanischen Bürgerkrieg, dass der Westen sich auf Neutralität zurückgezogen hat, während die faschistischen Mächte Franco ganz offen unterstützten?
STERN Die westliche Reaktion war bereits geprägt von Appeasement, von der Furcht vor unabsehbaren militärischen Konsequenzen und von der Angst vor dem Kommunismus. Diese Angst wurde von der katholischen Kirche sehr geschürt, die Kirche war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eindeutig auf Seiten Francos. Es gibt jetzt ein erschütterndes Buch über die Gräuel des Spanischen Bürgerkrieges, «The Spanish Holocaust» von Paul Preston, aus dem allerdings hervorgeht, dass auch die Verbrechen der Loyalisten entsetzlich waren.
FISCHER Meine Frage lautet: Wäre nicht Spanien 1936 der Punkt gewesen, um der Gewaltpolitik Einhalt zu gebieten? Stattdessen begann das Appeasement, indem man erklärte, man werde keine Waffen liefern, weder an die eine noch an die andere Seite.
STERN Der Spanische Bürgerkrieg war ein düsterer Vorbote des Kommenden. Übrigens haben sich die faschistischen Mächte an die Politik der Nichtintervention nicht gehalten. Und vergessen wir nicht: Es war auch die Zeit der Volksfront, der Hoffnung von Menschen wie Leon Blum, dass Sozialdemokraten und bürgerliche Linke zusammenkommen könnten, sogar mit Unterstützung der Kommunisten, was wiederum den englischen Tories gar nicht passte. Die Westmächte waren jedenfalls heillos zerstritten, und Spanien erschien ihnen nicht als so wichtig, jedenfalls bei weitem nicht als so wichtig wie Hitler-Deutschland. Ich würde im Übrigen nicht sagen, dass das Appeasement gegenüber den Deutschen mit München anfing; es hat in München aber seinen schrecklichsten Ausdruck und Höhepunkt gefunden.
FISCHER Wo war der Punkt, an dem Großbritannien und
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