Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
These mal ein bisschen ausweiten. Kriege zwischen großen Mächten sind eigentlich nicht mehr möglich, weil sie sofort eine Dimension erreichen, die sich politisch nicht mehr steuern lässt. Wenn man Krieg mit Clausewitz als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln definiert, ist die nukleare Konfrontation kein Krieg mehr; ein nuklearer Schlagabtausch zwischen globalen Mächten liefe auf die gegenseitige Vernichtung, den nuklearen Winter hinaus. Das transzendiert den politischen Raum. Seit feststeht, dass im Ergebnis die gegenseitige thermonukleare Vernichtung droht, sind Kriege zwischen globalen Mächten meines Erachtens politisch nicht mehr möglich. Das heißt aber nicht, dass militärische Kapazitäten auch in Zukunft nicht eine große Rolle spielen würden.
STERN Kriege in der europäischen Peripherie, vor allen Dingen im Balkan, halte ich für denkbar.
FISCHER Richtig.
STERN Ich glaube aber an die wirkliche Beruhigung in Europa, sogar an die Wirklichkeit von Versöhnung und den Abbau gegenseitiger Ressentiments. Allerdings erscheint mir Brüssel, das heißt die Bürokratie der EU, gelegentlich als Hindernis, und die jetzige Krise bedroht die Fortschritte der Versöhnung. Es ist traurig zu sehen, was jetzt alles auf dem Spiel steht.
FISCHER Wir sind heute durch die Finanzkrise zur politischen Einigung gezwungen – oder alles wird scheitern. Wir sind in der aktuellen Krise an einem Punkt angekommen, wo es nur noch diese beiden Alternativen gibt. Entweder werden wir über die Fiskalunion die politische Union herstellen – und wir reden hier über die Perspektive eines Jahrzehnts –, oder aber der Euro wird nicht aufrecht zu erhalten sein. Damit würde ein Desintegrationsprozess von historischem Ausmaß beginnen. Und weil das noch zu Ihren Lebzeiten stattfindet, Fritz, will ich Sie fragen, wie dieses Deutschland, das sechste, das Sie dann erleben, Ihrer Meinung nach aussehen wird.
STERN Ich bin kein Prophet des Untergangs. Sie meinen ein sechstes Deutschland ohne Europa? Das hieße, dass der lange Weg nach Westen in dem Moment endet, wo dieser Westen selbst in den Nationalismus zurückfällt. Lieber Joschka, Ihre Generation sollte das fünfte Deutschland in Europa erhalten. Wenn das nicht gelingt, wird es zweifellos zu einer Zerstückelung und ungeheuren Schwächung Europas kommen. Dann gibt es kein Europa mehr in dem Sinne.
FISCHER Rien ne va plus, das war’s dann. Dann sind wir abgetreten.
STERN Ein politisch vereintes Europa – da stimmen wir, glaube ich, vollkommen überein – wird es ohne eine gemeinsame Sicherheitspolitik und ohne integrierte europäische Streitkräfte nicht geben. Die Frage ist, was dann anders wäre und wie Europas Einfluss dann aussähe, militärisch, meine ich. Ich denke an den Eingriff in Libyen oder jetzt an Syrien. Was konkret würde ein besser integriertes Europa in Syrien anders machen?
FISCHER In Libyen wäre nichts anders gelaufen. Denn selbst da, wo Europa draufsteht, funktioniert militärisch ohne die USA nur wenig. Ob es Briten oder Franzosen sind, ob es der europäische NATO-Teil ist unter Einschluss der Deutschen, allen NATO-Partnern ist völlig klar: Spätestens wenn es zu einer Notlage kommt und die Evakuierungsgarantie notwendig wird, sind nur die USA dazu in der Lage. Nur sie haben die Hardware, nur sie haben die genügende Anzahl von Soldaten, Flugzeugen, Hubschraubern und die nötige politische Entschlossenheit. Das war sogar bei der britischen Intervention in Sierra Leone der Fall, wo ich es konkret erlebt habe. Selbst Großbritannien und Frankreich verfügen heute nicht mehr ausreichend über die Mittel, deren es für einen riskanten Einsatz weit jenseits ihrer Grenzen bedarf. Ohne Unterstützung der USA – in Planung, Command and Control und vor allen Dingen bei den Transportkapazitäten – geht europäisch nicht sehr viel, das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Ich teile gewiss nicht die Auffassung, die in Washington bei manchen, vor allem in den Reihen der Republikaner vorhanden ist, dass militärisches Eingreifen eines der Instrumente ist, die man in der Politik benutzen kann, und nicht das letzte Mittel überhaupt. Das ist nicht meine Auffassung, aber dann und wann kommst du eben in eine Situation, wo du es mit Schurken zu tun hast, die sich nicht an die von allen akzeptierten Regeln halten und wo du dann eingreifen musst. Das Wissen, dass es diese Möglichkeit konkret gibt, wirkt nicht
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