Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Auch bei uns wird die Politik zunehmend schwächer. Wenn das so weitergeht, bedeutet das tatsächlich eine Erschütterung des Westens insgesamt. Schon heute ist der Gedanke des Westens in Amerika sehr viel weniger ausgeprägt als früher. Man kann das gut am Erziehungswesen sehen; früher war das Wissen um die so genannte Western Civilization eine Selbstverständlichkeit, deren Grundwerte gehörten zur Erziehung am College. Jetzt muss man sich viel mehr mit Asien beschäftigen. Und wenn dann noch eine richtige Wirtschaftskrise dazukommt, dann wird der Gedanke des Westens, der schließlich und endlich das Rückgrat des Liberalismus ist, immer brüchiger werden.
FISCHER Aber es ist nicht die Wirtschaft, die Schuld daran trägt. It’s not the economy.
STERN Es geht tiefer.
FISCHER Sehr viel tiefer. In der Wirtschaft tritt es jetzt nur zutage. Die Idee, die hinter dem Euro steht, ist keine Wirtschaftsidee. Die Idee, die hinter dem gemeinsamen Markt steht, ist keine Wirtschaftsidee. Die Idee war von Anfang an und ist auch heute eine politische Idee – die Einheit Europas in Frieden und Freiheit.
STERN Die bis heute nicht wirklich umgesetzt wurde. Man hätte erst die politische Union ausbauen und dann die Währungsunion einführen müssen, in dieser Reihenfolge. Es ist anders gekommen. Aber der Fehler, der gemacht wurde, ist Geschichte.
FISCHER Richtig, und jetzt geht es darum, wie hoch die Kosten sein werden: die Kosten eines Zusammenbruchs des Euros oder einer Abwicklung einzelner Mitgliedsstaaten und der generellen Renationalisierung. Es ist zwar einfach zu sagen, raus mit den Griechen, aber ein sich destabilisierendes Griechenland, das sich Russland zuwenden muss, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt – die Russen dann in einer starken Position in einem NATO-Mitgliedstaat, Griechenland ein Faktor der Instabilität, ein faktisch zusammengebrochener Staat auf dem Balkan …
STERN Und nebenan die Türkei.
FISCHER Und Russland die Gelegenheit nutzend – also ich weiß nicht, wer hier mit seinem Kopf was tut in unserer Regierung, ich weiß es nicht, aber man braucht ja all diese Fakten nur zusammenzählen. Wer die These vertritt, Europa kann auch ohne Euro, muss auch den Preis definieren, den die Rückabwicklung kostet. Das wird ein politisches Desaster und ein ökonomisches Desaster mit sich bringen, und Europa kann sich abmelden.
STERN Sie haben einen wichtigen Aspekt angesprochen, die Renationalisierung. Da sehe ich langfristig eine wirkliche Gefahr. Zumal der sich abzeichnende Isolationismus in Amerika auch eine Form des Nationalismus ist. Und davon haben wir wirklich genug gehabt im 19. und 20. Jahrhundert.
FISCHER Es fängt an mit Misstrauen. Und Misstrauen ist erst einmal Gift für den gemeinsamen Markt und die gemeinsamen Institutionen. Die Schwächeren werden zu Protektionismus greifen, und davon werden auch wir direkt betroffen sein. Wenn ich mir vorstelle, was allein beim Auseinanderdividieren der gemeinsamen Währung an Animositäten hochkommen wird! Damit Sie mich richtig verstehen, Fritz: Wenn es nur die Griechen wären, wäre es schlimm, aber beherrschbar. Meine große Sorge ist, dass es nicht nur die Griechen sein werden. Entweder man gibt eine Garantie für die gesamte Währungsunion ab, und das heißt, die Schulden werden europäisiert, oder aber alles fliegt auseinander, eines von beiden. Eine Europäisierung der Schulden ohne politische Union kann ich mir aber nur schwer vorstellen. Und das alles im Schweinsgalopp.
STERN Aber wo liegt die Verantwortung, die Führung? Wo ist die politische Leidenschaft (mit Augenmaß), von der Max Weber sprach – als Vorbedingung von praktischer Vernunft. An wem liegt es, dass die Sache nicht voran kommt? Liegt es an der Berliner Regierung?
FISCHER Es liegt nicht nur an der Berliner Regierung, aber ohne die Berliner Regierung ist eine Garantie des Euro nicht glaubhaft, und Frau Merkel tut sich mit einer solchen Garantie sehr schwer. Warum? Weil die Konstruktion der Europäischen Union eine politische Konstruktion ist. Sie geht aus von den Großkatastrophen des 20. Jahrhunderts, dem zweiten dreißigjährigen Krieg, der Spaltung des Kontinents und fünf Jahrzehnten Kalter Krieg. Wenn man das Jahrhundert Revue passieren lässt, von 1914 …
STERN Bis 1989 …
FISCHER … naja, ich würde sogar sagen, bis zum Ende der Balkankriege, also eher 1999, kommt man, wenn man
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