Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
gescheitert. Frankreich will sozusagen die monetäre Integration ohne die politische. Das werden die Deutschen nicht mitmachen, denn es bedeutet die Vergemeinschaftung der Schulden ohne Zugriffsmöglichkeit auf die Haushalts-, Fiskal- und Steuerpolitik. Um eine Wiederholung des Schlendrians zu verhindern, braucht man schon gesamteuropäische Steuerungsmöglichkeiten, die weit über Maastricht hinausgehen.
STERN Aber die zur Verfügung stehende Zeit könnte knapp werden. Die Märkte warten ja nicht, bis sich die europäischen Politiker auf die Grundlagen einer gemeinsamen Haushaltspolitik geeinigt haben.
FISCHER Man kann sich zur Überbrückung beispielweise zwischenstaatliche Verträge vorstellen, welche die Haushaltspolitiken nicht zusammenführen zu einem gemeinsamen Haushalt für alle, sondern gemeinsam die Haushaltskorridore beschließen, die jeder Staat zur Verfügung hat. So etwas lässt sich durch einen zwischenstaatlichen Vertrag regeln und braucht nur die Zustimmung der jeweiligen Parlamente.
STERN Das heißt aber, dass Großbritannien definitiv raus wäre.
FISCHER Würden Sie das bedauern? Ich bedaure dies, aber die Briten wollen es so.
STERN Die Engländer wollten von Anfang an Sonderrechte. Sie wollen ihre eigene Währung und lehnen eine wirkliche Union oder ein föderalistisches Europa ab. Mit großem Bedauern muss ich sagen: Was die Briten jetzt anrichten, ist ein welthistorischer Fehler.
FISCHER Eben. Und wenn die jetzige Regierung länger dran bleibt, werden sie auch austreten. Sie brauchen ja nur ein Referendum auf den Weg zu bringen, denn die Mehrheit der Briten wird sich zweifellos für den Austritt entscheiden.
STERN Ach, wissen Sie, im Augenblick würde ich mir kein Referendum irgendwo wünschen. Nehmen Sie nur die Holländer, dieses Vorbild für Europa, dieses Musterland an Toleranz! Der Umschwung dort ist erschütternd: Die Europa-Idee könnte ein Opfer von globalisierter Intoleranz und Unbehagen werden. Immerhin waren die letzten Wahlen in Holland wieder ermutigend.
FISCHER Die Briten haben noch ein ganz anderes Problem: Schottland. Vor allem mit einem möglichen Austritt aus der EU. Das wird hier nicht so richtig wahrgenommen.
STERN Die Schottland-Frage ist ein ganz schwieriges Problem, da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Auch hier zeichnet sich die Renationalisierung ab, über die wir schon sprachen. Schottland war kulturell und wirtschaftlich ungeheuer wichtig und erfolgreich. Seit Mitte der siebziger Jahre wird an der Küste Schottlands erfolgreich Erdöl gefördert, und außerdem gibt es seit 1999 ein schottisches Parlament, Ausdruck eines sich weiter entwickelnden schottischen Selbstbewusstseins. Und es gab schon in den siebziger Jahren eine starke Strömung für eine schottische Unabhängigkeit. Als ich damals in London war, fragte mich ein großartiger Freund, John Bowlby, wie in einem Examen: «Was halten Sie für unser wichtigstes Problem?» Gottseidank gab ich die richtige Antwort: «Schottland».
FISCHER Dass jetzt ein wirkliches Problem daraus wird, liegt mit an dem Vorsitzenden der Scottish National Party, den ich für den talentiertesten und fähigsten britischen Politiker halte – ein charismatischer Tribun, der handwerklich gut und machtpolitisch extrem clever ist, Alex Salmond heißt er. Im Herbst 2014 will er ein Referendum zur Unabhängigkeit durchführen lassen. Die Mehrheit ist zwar gegen die Unabhängigkeit, aber Salmond hat das bisher so geschickt gemacht, dass diese Frage zur dominanten innenpolitischen Frage geworden ist. Sollte es in die Hose gehen, wird der dann in Downing Street regierende Premier in die Geschichtsbücher eingehen als derjenige, der nach 300 oder wie vielen Jahren – ich weiß das nicht so genau – das Vereinigte Königreich verloren hat.
STERN Was Sie gerade gesagt haben – und zwar völlig mit Recht – über den Führer der schottischen Partei, dass er etwas Charismatisches hat und seine Sache sehr, sehr gut macht, führt zu einem Kernproblem der gegenwärtigen Krise in Europa. Es ist in der Tat einer der traurigen Aspekte, dass es in der europäischen Politik eigentlich keine wirklich großen Figuren gibt.
FISCHER Fritz, wissen Sie, was ich an Helmut Schmidt immer gehasst habe – und wo ich mir fest vorgenommen habe, so wirst du nicht? Dass er die typische Väterreaktion drauf hat, wer nicht im Krieg, im Dreck gelegen habe, könne nicht mitreden. Und die
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