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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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ehrlich ist, auf 85 Jahre Konfrontation in Europa. Die Gründungsidee war, eine neue Staatenordnung zu gründen, die nicht mehr auf dem Prinzip der Balance of Power beruht, sondern auf der Integration der Interessen. Und da ging man streng «marxistisch» vor, indem man die Wirtschaft als Hebel nahm – nicht die Politik, nicht die Kultur, nicht die Bildung –, sondern die Wirtschaft, weil man davon ausging, dass die Harmonisierung der wirtschaftlichen Interessen dazu führt, dass ein wesentlicher Kriegsgrund zwischen den europäischen Mächten entfällt. Die Wirtschaft war also nicht Zweck des Ganzen, sondern war nur Hebel. Zweck des Ganzen war – und ist – die Integration; die Seele des EU-Prozesses ist die Einigungsidee, eine politische, keine ökonomische Idee. Dann kam überraschend das Jahr 1989, zwei Jahre später verschwand die Sowjetunion. Die Zustimmung zur Einheit gab es, weil Deutschland fest in NATO und Europäische Union eingebunden war, die Zustimmung zu einem neuen deutschen Nationalstaat allein hätte es niemals gegeben.
    STERN    Selbst wenn Sie es ironisch meinen, ist der Ausdruck «marxistisch» leicht irreführend. Haben Monnet, Schuman, de Gasperi und Adenauer denn den Zusammenhang von Wirtschaft und Politik nicht verstanden? Gab es denn gar kein moralisches Element? Zumindest eine Art christliches Verständnis von Europa? Ich glaube, es gab es.
    FISCHER    Doch, aber zuerst kam das Fressen und dann die Moral, um Brecht zu zitieren. Die Franzosen haben sich einer politischen Union verweigert. Deshalb hat man sich in Maastricht 1992 allein auf eine Währungsunion geeinigt, die mit dem Anspruch versehen wurde, eines Tages in einer politischen Union aufzugehen. Die Erfahrung des europäischen Integrationsprozesses hatte ja gezeigt, dass Fragen, die sich stellen, von der jeweils regierenden Generation im Sinne der Weiterführung des Prozesses beantwortet werden. 2008 hat dieses Prinzip plötzlich nicht mehr funktioniert. Da hat Angela Merkel erklärt, die Finanzkrise ist zwar eine europäische Herausforderung, aber jeder rettet seine Banken allein. Das war, wenn man so will, der Beginn des Auseinanderlaufens. Und deshalb, um Ihre Frage zu beantworten: Entweder springen die Deutschen über ihren Schatten und sagen jetzt ja zu einer Vergemeinschaftung der Schulden, in welcher Form auch immer, oder aber alles fliegt auseinander. So ist es. An dieser Grundsatzentscheidung führt kein Weg vorbei. Wir Deutsche werden unser Herz über die Hürde der Fiskalunion, und die Franzosen das ihre über die Hürde der politischen Union werfen müssen!
    STERN    Ja, es ist eine Frage des Herzens! Bloß, das Herz ist inzwischen auch «verwirtschaftlicht», verhärtet durch den Neo-Kapitalismus, verengt durch die Gesamtverdummung. Was die deutsche Einheit anlangt, darf man die Rolle der USA nicht vergessen. Aber was die Krise seit 2008 anlangt, darf man die Rolle der USA eben auch nicht übersehen.
    FISCHER    Solange es der Weltwirtschaft gut ging, solange das Wachstumsmodell à la Reagan und Thatcher funktionierte, solange ging es uns allen gut. Fast drei Jahrzehnte hatten wir diese Megablase, und wir Deutsche waren mit unserer Exportwirtschaft kräftig daran beteiligt. Vieles von dem, was heute unseren Wohlstand ausmacht, gründet auf dieser Blase. Das sollten wir bedenken, wenn wir jetzt alles auf die Angelsachsen schieben wollen.
    STERN    Ich will einmal an die Anfänge des europäischen Integrationsprozesses erinnern. Mit der Gründung des gemeinsamen Marktes war auch die berechtigte Hoffnung verbunden, dass das die Wirtschaft ankurbelt. Es war nicht nur ein politisches Projekt.
    FISCHER    Ja, aber das Ökonomische war nicht das Primäre.
    STERN    Nein, das Primäre an den römischen Verträgen 1957 war, genau wie Sie gesagt haben, das politische Verständnis.
    FISCHER    Die Frage, die sich heute stellt, ist ganz einfach: Wollen wir das vereinte Europa? Dann müssen jetzt die Deutschen und die Franzosen springen oder Farbe bekennen, wie immer Sie das nennen wollen.
    STERN    Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wäre der Preis der Franzosen dabei nicht weniger hoch als der Preis, den die Deutschen zahlen müssten: Preisgabe souveräner Rechte in der Außen- und Sicherheitspolitik.
    FISCHER    Frankreich wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, Brüssel oder Straßburg weitergehende politische Souveränität zu übertragen. Deswegen ist ja der Verfassungsvertrag

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