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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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die Frauenbewegung!
    STERN    Wie erklären Sie sich die bis heute anhaltende Emotionalität, sobald das Gespräch auf das Thema 1968 kommt?
    FISCHER    Frau Merkel kann man das nicht vorwerfen. 1968, das ist für sie, wie wenn man von der erdabgewandten Seite des Mondes spricht. Ich erinnere mich gut an ihre damalige Rede, weil mir auffiel, dass sie den Kampf, der die westdeutsche Demokratie zu dem gemacht hat, was sie heute ist, diesen permanenten Kampf, den man aus der Rückschau sicher etwas distanzierter sehen kann und muss, nicht wirklich kannte. Aber dass es ein Kampf war, der nicht mit meiner Generation begann, sondern zuerst von der Kriegs- und Flakhelfergeneration, den Augsteins, Dahrendorfs, Habermas’ und wie sie alle heißen, geführt wurde, dass auch die Beiträge der Großvätergeneration Heuss, Adenauer und so weiter eine zentrale Rolle spielten; dass es ein richtiger Kampf war, in dem es um die Selbstvergewisserung der Deutschen ging und um kleine Fortschritte in der Selbstanerkenntnis unserer Schuld, während ja die große Mehrheit der Meinung war, jetzt ist mal Schluss, andere haben auch Dreck am Stecken – also, dass es ein permanenter Kampf war: die große Debatte um die Aufhebung der Mordverjährung, ein Meilenstein in der Geschichte unserer Demokratie; die langsam wachsende Bedeutung von Ludwigsburg als Zentralstelle zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen; das individuelle Engagement von Richtern und Staatsanwälten, von denen viele einen hohen Preis bezahlt haben, weil sie hartnäckig blieben in den großen Prozessen, beginnend mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess; dann die Schlussstrichdebatten, die allesamt gescheitert sind, die große Debatte zwischen Habermas und Nolte, die Historikerkontroverse – all das sagte Frau Merkel nicht viel. In ihrer Vorstellung kommt 1949 mit Adenauer die Demokratie – und dann war das eben so. So war es eben nicht. Die große Leistung der Verfassunggebenden Versammlung und derer, die das als Grundgesetz formuliert haben, will ich damit in keiner Weise schmälern.
    STERN    Nein, im Gegenteil, man sollte diese Leistung heute mehr anerkennen. Aber der Kampf um die Vergangenheit wird weitergehen, die braune Vergangenheit verjährt nicht. Sie ist auch in Europa präsent, wie wir jetzt wieder bei den Demonstrationen gegen die Brüsseler Sparpolitik erleben, auch wenn das Wissen um jene Zeit verblasst. Einen Namen muss ich aber unbedingt noch hinzufügen: Willy Brandt. Die Liberalisierung der Bundesrepublik ist ohne ihn gar nicht vorstellbar.
    FISCHER    Und nicht ohne die FDP! Das klingt heute ja fast schon verrückt, wenn man die FDP erwähnt! Aber wir wollen die alte westdeutsche FDP mal nicht vergessen, die ganze Rechtsstaatsreform war im Wesentlichen bei der FDP zu Hause, nicht bei der Sozialdemokratie. Das moderne Strafrecht, der Paragraph 175, all das ist heute fast nicht mehr mit der FDP zu assoziieren, Gerhart Baum einmal ausgenommen. Aber der Rechtsstaatsliberalismus, der stark ausgeprägt war in Figuren wie Karl-Hermann Flach oder auch Werner Maihofer, hat einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet zur inneren Modernisierung der Bundesrepublik. Auf dem Gebiet des Rechts waren die Widerstände gegen die Modernisierung besonders zäh.
    STERN    Ich verstehe, dass Sie sagen, Sie könnten Frau Merkel keinen Vorwurf machen, weil sie diese ganze Geschichte…
    FISCHER    Ich saß da und dachte mir: Mädel, wovon redest du jetzt?
    STERN    Das verstehe ich.
    FISCHER    Also, Entschuldigung, dass ich das so persönlich sage, aber genauso saß ich da und hab mir das gedacht. Wenn das ein Westdeutscher oder eine Westdeutsche gesagt hätte, dann hätte ich das anders gesehen.
    STERN    Darauf zielt meine Frage. Die Ablehnung von 68 ist eine fast schon ideologische Haltung, die man in Westdeutschland häufig antrifft. Es ist dieselbe Haltung, die Ihnen auch in der Auseinandersetzung um die Vergangenheit des Auswärtigen Amts begegnete. Wie auch immer Sie diesen Kampf nennen wollen, am Ende geht es um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. In diesem Kampf haben Sie in den Augen Ihrer politischen Gegner auf der falschen Seite gestanden, und da genügt es denen nicht, wenn Sie sich dafür entschuldigen, dass Sie eben auch Steine geworfen haben. Im Grunde erwartete man von Ihnen eine Entschuldigung dafür, dass Sie die Bundesrepublik sozusagen unter Generalverdacht gestellt haben. Das steckt da drin.
    FISCHER    Das mag da

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