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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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hätte die Parteilinke einbinden sollen – er hätte nicht alle einbinden können, aber viele –, und er hätte von der Grundlinie spielen sollen gegen die Opposition, die den Bundesrat hatte, aber das wäre alles machbar gewesen. Ich hätte es so gemacht. Als er mit der Neuwahlidee kam, war mir klar, dass die Koalition zu Ende ist.
    STERN    Aber nicht unbedingt die Kanzlerschaft von Schröder. Schröder hätte auch in einer anderen Koalition den Kanzler stellen können.
    FISCHER    So ist es. Er sah in Neuwahlen einen Weg zum Koalitionswechsel unter seiner Kanzlerschaft. Was seine Idee war. Ich habe ihm das nicht vorgeworfen.
    STERN    Aber Sie haben es offen gesagt?
    FISCHER    Ja, ich habe ihm gesagt, ich verstehe, worauf es hinausläuft, ich kann dir nichts anbieten. Das war an seinem Geburtstag, am Vorabend der Beerdigung von Johannes Paul II. in Rom. Wir waren im Hotel de Russie an der Piazza del Popolo zum Abendessen verabredet, und da habe ich es ihm direkt auf den Kopf zu gesagt: «Ich verstehe das, ich kann dir nichts anbieten.» Sollte ich ihm garantieren, dass wir Grünen die nötigen Prozente aufbieten? «Du willst einen Koalitionswechsel, damit sind wir draußen. Ich nehme dir das nicht übel, deine Interessenlage ist eine andere. Aber lass uns das klar sagen, wie es ist.» Meine Partei hat sehr emotional reagiert, ich nicht, für mich war das eine rationale Veranstaltung.
    STERN    Das ist die andere Seite der Macht sozusagen, Abschied nehmen zu können, ohne Larmoyanz und ohne …
    FISCHER    Da es auf Interessen basierte, war es nachvollziehbar.
    STERN    Sie scheinen klare Schnitte zu lieben. Das bringt mich zurück an den Anfang unseres Gesprächs, als Sie erzählten, dass Sie als junger Mann von einem bestimmten Punkt an keine Autorität mehr ertragen konnten und deshalb von einem Tag auf den anderen Ihre Lehre abgebrochen haben …
    FISCHER    Ja, das war’s dann – diese Haltung habe ich mir schon früh zu eigen gemacht.
    STERN    Wird der Neuanfang dann leichter?
    FISCHER    Das weiß ich nicht. Damals war ich erst einmal on the road . Ein paar Gelegenheitsjobs, um Geld zu bekommen, und dann los, durch Europa und den Nahen Osten. Dann kam der 2. Juni, und einen Tag oder zwei Tage später war in Stuttgart eine Demo vom SDS, da lief ich zufällig rein. Und das war dann der Anfang …
    STERN    Entschuldigen Sie, Joschka, Sie müssen mir zugute halten, dass ich kein Alt-68er bin. Was war am 2. Juni?
    FISCHER    Am 2. Juni 1967 wurde bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen.
    STERN    Okay. Und wie alt waren Sie in diesem Moment?
    FISCHER    Gerade 19 geworden. Immer noch nicht volljährig, vergessen Sie das nicht.
    STERN    Gab es deswegen Probleme?
    FISCHER    Nein. Das Verhältnis zu meinen Eltern hatte sich allerdings völlig verfinstert. Und im November 1966 wurde unsere Familie innerhalb von zehn Tagen dezimiert. Meine zweitälteste Schwester lag mit einer nicht heilbaren Nierenerkrankung im Sterben; mein Vater hat die Nachricht vom Arzt bekommen, weil meine Mutter gerade nicht da war, und das hat ihn so erschüttert, dass er noch zehn Tage vor ihr am Hirnschlag gestorben ist.
    STERN    Schrecklich. Da waren Sie noch zu Hause, oder waren Sie schon weg?
    FISCHER    Ich bin zurückgekommen; die Nachricht, dass meine Schwester sterbenskrank ist, erreichte mich in Syrien. Dieser doppelte Tod in der Familie war ein weiterer Grund, die Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen.
    STERN    Wie kommt ein 18-Jähriger, der eben seine Lehre abgebrochen hat, 1966 nach Syrien? Hatte das mit der PLO zu tun?
    FISCHER    Ach wo, ich wollte über den Hippietrail nach Indien und Nepal trampen. Völlig unpolitisch. Allerdings, muss ich hinzufügen, waren die intellektuellen Debatten der Neuen Linken Ende der sechziger Jahre sehr viel internationaler als alles, was danach kam. Man fühlte sich da in einer großen, globalen Gemeinschaft, was ja nicht selbstverständlich war. Heute sind wir es gewohnt, in einer globalen Welt zu leben, aber das war damals völlig anders. Man verfolgte sehr genau, was in anderen Ländern vor sich ging, und der eine oder andere reiste auch dorthin – ich gehörte nicht dazu, ich konnte mir das nicht leisten. Aber dass die Linke eine internationale Bewegung war, das spürte man, das machte gewissermaßen ihren Charakter

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