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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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aus. Der Vietnamkrieg spielte dabei natürlich eine Rolle, und nicht zu vergessen auch Prag 1968. Der August 1968 war furchtbar.
    STERN    Entsetzlich. Mir kamen beim sowjetischen Einmarsch die Tränen. Welche Hoffnungen waren mit Alexander Dubček verbunden! Mir kam es so vor wie der Verrat des Westens. Aber es gab auch die klar ablehnende Haltung der PCI, der Kommunistischen Partei Italiens, die kritischen Artikel von «L’unità» gegen den Einmarsch; mit der Abkehr vom brutalen sowjetischen Machtanspruch wurde im Grunde der Eurokommunismus geboren. Mich hat das damals so leidenschaftlich bewegt, dass Heinrich August Winkler und ich auf dem Internationalen Historikertag 1970 in San Francisco die sowjetischen Teilnehmer mit Listen über die inzwischen inhaftierten tschechischen Historiker und Intellektuellen konfrontiert haben. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich auch einige Unterschriften von kommunistischen Historikern aus dem Westen wie Eric Hobsbawm und Albert Soboul zur Unterstützung bekommen. Von Louis Aragon stammte die treffende Formulierung, Prag sei zum «Biafra des Geistes» geworden.
    FISCHER    Wir hatten die große Hoffnung, dass es doch einen dritten Weg gäbe, raus aus der Blockkonfrontation. Ich erinnere mich gut an Rudi Dutschkes Auftritt in Prag, er fuhr ja im Frühjahr 1968 dorthin. Auch die polnischen Studenten spielten eine große Rolle, aus deren Reihen später Adam Michnik und andere Intellektuelle rund um die Solidarność-Bewegung hervorgingen. Es war also auch hinter dem Eisernen Vorhang einiges los, und deshalb war das Ende von Dubček so deprimierend, denn Prag war das Zentrum.
    STERN    In der Geschichtswissenschaft gehen die Meinungen auseinander, wie man die Bewegung, die man in Deutschland und anderswo als 68er-Bewegung bezeichnet, einordnen soll. Die einen betonen, dass es sich im Kern um einen Generationenkonflikt gehandelt habe, der in Deutschland sehr stark von der kritischen Auseinandersetzung der jungen Generation mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bestimmt wurde. Die anderen – und zu dieser Gruppe zähle ich mich – betonen mehr den internationalen politischen Charakter und sprechen von einer sozialen Bewegung. Ich habe damals einen Artikel geschrieben mit der Überschrift: «The international student movement», das heißt, mir war klar, dass es sich um eine internationale Bewegung handelte. Auf der anderen Seite konnte ich dem Programm des amerikanischen SDS (Port Huron 1962) in vielem zustimmen; das galt für die Betonung der Civil rights und den Abscheu vor dem Rassismus. Ich hatte mich gegen den Vietnamkrieg engagiert und außerdem gegen die Anwerbungsaktivitäten der Armee auf Universitätsgelände protestiert. Auch zu den Verflechtungen der Universität mit Geheimaufträgen verschiedener Regierungs-Agencies hatte ich mich öffentlich kritisch geäußert. Aber die autoritären und brutalen Angriffe der Studenten auf die Universitäten selbst und den Lehrbetrieb empfand ich als gefährlich.
    FISCHER    Ich meine, beides trifft zu, Generationenkonflikt und internationale Bewegung. Der entscheidende Punkt scheint mir aber ein anderer gewesen zu sein. Der Begriff der Kulturrevolution ist durch die chinesische Kulturrevolution besetzt, und ein anderer adäquater Begriff fällt mir ad hoc dazu nicht ein, aber ich glaube, der entscheidende Punkt war der kulturelle Bruch in der westlichen Massenkultur. Der Vietnamkrieg kam hinzu. In Deutschland, Italien und Japan kam aber noch die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration über die Vergangenheit dazu und hat nicht unwesentlich zum Entstehen des linksradikalen Terrorismus in diesen drei Staaten beigetragen; da muss ein Zusammenhang bestehen, weil es diese Form des Terrorismus nur bei den ehemaligen Achsenmächten gegeben hat. Die Franzosen neigen auf der radikalen Linken ja nicht gerade zu einer pazifistischen Haltung, aber es gab dort keine solche Entwicklung.
    STERN    In Frankreich gab es aber die ganz großen Demonstrationen im Mai 1968.
    FISCHER    Ja, aber nicht die terroristische Variante.
    STERN    Es war erstaunlich friedlich, wenn man an die Massen denkt in Paris. Und Paris war ja auch der einzige Ort, wo der revolutionäre Funke für eine kurze Zeit übersprang auf die Arbeiter.
    FISCHER    Ich glaube, es war im März 1968, da las ich einen langen Artikel in der «Zeit», warum es überall kracht, nur nicht in Frankreich, da gäbe es nämlich den großen General, die

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