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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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institutionelle Garantien, um mehr Freiheit durch Recht. Also brauchen wir schrittweise Veränderungen für mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit. Alles andere verweht der Wind, oder es kommen gar finstere Interessen zum Vorschein.
    STERN    Ich komme nochmal auf Havel und den Gedanken der Macht der Machtlosen, der im 21. Jahrhundert immer wichtiger wird. Die Welt rückt enger zusammen …
    FISCHER    Die Macht der Machtlosen muss zu einem Bestimmungsfaktor im internationalen politischen System werden. Das ist eine Konsequenz der Globalisierung und der gegenseitigen Abhängigkeit.
    STERN    Die Frage lautet, wie schaffen wir schrittweise mehr Gerechtigkeit ohne Gewaltanwendung. Sie haben Mandela erwähnt. Ich will an Gandhi erinnern, der den gewaltfreien Widerstand als Erster erfolgreich praktiziert hat. Wenn ich allerdings sehe, wie der Westen mit dem Problem der Umverteilung des globalen Wohlstands umgeht, mache ich mir große Sorgen, ob wir die notwendigen Veränderungen ohne Gewalt erreichen können.
    FISCHER    Der Westen wird versuchen, sich noch ein bisschen Zeit zu kaufen. Aber auf Dauer wird es kein Entrinnen geben vor den Konsequenzen kollabierender Ökosysteme. Wenn so ein Ökosystem mal gekippt ist, trifft es alle.
    STERN    Es ist doch nicht nur das Ökosystem! Es geht um die Grundeinstellung von Teilen unserer Gesellschaft, um mentale Verirrungen, die allgemeine Verbreitung von Egoismus, Gier und Maßlosigkeit. Die sogenannten Konservativen im heutigen Amerika huldigen einem primitiven Sozialdarwinismus. Glauben Sie, dass das System der G20 noch die richtige Organisationsform zur Lösung der anstehenden Probleme ist?
    FISCHER    Ja, aber nicht nur die G20. Ich meine, wir werden keine Reform des UN-Sicherheitsrats bekommen, das würde für die Europäer auch sehr bitter werden…
    STERN    Es wird einmal kommen.
    FISCHER    Ja, es wird einmal kommen. Und dann werden die Europäer zu hören bekommen, warum habt Ihr eigentlich zwei ständige Sitze? Amerika hat einen, Russland hat einen, China hat einen, warum habt ihr zwei? Weil ihr mal so tolle Kolonialmächte ward? Diese Zeit ist vorbei. Und warum habt ihr vier nichtständige Sicherheitsratsitze, weder Kalifornien noch New York haben einen nichtständigen Sicherheitsratsitz, auch in Russland hat niemand einen nichtständigen Sicherheitsratsitz.
    STERN    Die Sowjets haben 1944/45 angefangen damit, als sie für die Ukraine und Weißrussland eigene Sitze einforderten. Damit konnten sie sich aber nicht durchsetzen.
    FISCHER    Ja, aber das wird den Europäern dann nicht helfen, sondern man wird sagen: Ihr habt einen Sitz, und dass ihr euch nicht einigen könnt, ist euer Problem. Euer Sitz bleibt so lange leer, bis ihr euch geeinigt habt, wir machen inzwischen die Reform und nehmen Brasilien und Indien oder auch ein großes afrikanisches Land als ständige Mitglieder auf – das wird eines Tages kommen.
    STERN    Wahrscheinlich früher, als man heute glaubt.
    FISCHER    Das wird kommen, und die Europäer werden sich der Realität anpassen müssen. Da sind wir wieder beim Thema Europa. Und da mache ich jetzt einen Schnitt und sage: Wenn sich Europa nicht sputet, bleibt halt nur ein leerer Stuhl.
    STERN    Wir haben genug leere Stühle gehabt.

V The Beat Generation
    FISCHER    Wir haben jetzt viel über die 68er geredet, über die Anfänge der Protestbewegung in Amerika haben wir noch gar nicht gesprochen. Das Thema interessiert mich sehr, und meine erste Frage lautet: Wann haben Sie diese Protestbewegung zum ersten Mal wahrgenommen, wann hatten Sie das Gefühl, da ändert sich was, da kommt was Neues auf uns zu?
    STERN    Ich weiß nicht, ob ich Ihnen ein genaues Datum nennen kann. Aber ich kann Ihnen von einem Telefongespräch im Frühjahr 1967 berichten. Die Rockefeller Foundation hatte mich angerufen und gebeten, ihnen bei der Vorbereitung einer Konferenz in Bellagio über die Krise der Geschichtsschreibung zu helfen und ihnen zu sagen, wen sie einladen sollten. Ich habe ihnen ein paar Namen genannt und dann gesagt: Bei allem Respekt für die Rockefeller Foundation, ein Wochenende in Bellagio! Erstens glaube ich nicht, dass es im Moment eine Krise der Geschichtsschreibung gibt, und zweitens, wenn es sie gibt, könnt ihr sie nicht an einem Wochenende am Comer See lösen. Wenn ihr was wirklich Wichtiges tun wollt, dann kümmert euch um die internationalen Studentenunruhen. Die waren völlig fassungslos, was

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