Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Vaterfigur und so weiter. Kaum war die Druckerschwärze getrocknet, ging’s los. Natürlich kann man sagen, so viel ist ja 1968 nicht passiert, wenn man es vergleicht mit anderen historischen Zäsuren in der modernen Geschichte. Es war ja nicht eine echte Revolution. Dennoch hat dieses Jahr eine fast magische Kraft behalten, und die Konsequenzen reichen bis heute.
STERN In dem Artikel, den ich eben erwähnte, habe ich gewarnt: «Ihr spielt jemandem wie Nixon in die Hände» …
FISCHER Meinen Sie mit «ihr» die Studenten?
STERN Die Studenten, ja, und ihre Sympathisanten unter den Professoren, die sich endlich wieder «jung» fühlen konnten. Mir war völlig klar, dass das, was da in verschiedenen Städten auf der Straße passierte, für die Rechten ein gefundenes Fressen war und dass der Ruf nach Law and Order laut werden würde. Nixon, den ich schon damals für ein ungeheures Unglück hielt, wurde im Herbst 1968 dann auch gewählt, und ich bin sicher, dass die Studentenbewegung, ohne es zu wollen, zu seinem Sieg beigetragen hat. Obwohl vielleicht einige von den sich selbst stilisierenden Revolutionären an eine politique de guerre dachten: Je schlimmer es wird in der Politik, umso besser für uns. Und was die Langzeitwirkungen angeht: Die Culture Warriors kämpfen heute noch gegen 1968.
FISCHER Richtig. Hier bei uns ist es mittlerweile so, dass das Verlagshaus Springer 1968 zwar mehr und mehr für sich zu vereinnahmen versucht, aber es bleibt da ein Stachel der Provokation. Ich rede hier nicht von dem linksradikalen Terrorismus, das war, in der Sprache von damals, ein Gewalttrip und knüpfte an eine deutsche Tradition an, die alles andere als links war. Was ich meine, ist die Veränderung der Alltagskultur, auch der politischen Kultur. Politik war für uns doch auch sehr viel Kostümfest.
STERN Eben, und ganz besonders an den Universitäten. Raymond Aron schrieb über 1968 als Psychodrama. Es besteht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der eben von Ihnen beschriebenen Geringfügigkeit der Ereignisse selbst, die nichts wirklich Großes bewegt haben, und der unglaublichen Emotion auf der Gegenseite, die bis heute anhält.
FISCHER Halt, halt. Es kommt drauf an, von wo Sie es sehen. In Deutschland fand das alles ja zu großen Teilen 1967 und Anfang 1968 statt. Ich war bis Ostern 1968 in Stuttgart, und das war ein sehr provinzielles Städtchen, um es mal milde zu formulieren.
STERN Was haben Sie gemacht?
FISCHER Na, Revolution.
STERN Also doch.
FISCHER 1967 gab es nicht eine Wohngemeinschaft in Stuttgart, ein halbes Jahr später gab es mehr als zwei Hände voll. Das klingt jetzt vielleicht banal, ist es aber nicht, weil sich daran ablesen lässt, wie schnell sich das Alltagsverhalten in dieser Jugendprotestkultur veränderte, und das wiederum hatte unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Das können Sie zum Beispiel an der Haartracht der Fußballnationalmannschaft Anfang der siebziger Jahre sehen, eher traditionell orientierte Leute, die plötzlich lange Haare tragen. Selbst Dieter Thomas Heck – das ist der sehr konservative Moderator einer populären Schlagersendung gewesen, die ich selber nie geschaut habe: Neulich sah ich Fotos von ihm und dachte, Mensch, so schnell ging das damals. Ich kann zwar nur für Deutschland sprechen, aber das Deutschland vom Sommer 1968 sah anders aus als das Deutschland vom Sommer 1967.
STERN Da sollte man auch den Wandel im Verhältnis der Geschlechter erwähnen. Der große Knall gegen die bourgeoise Repression inklusive Abschaffung der Büstenhalter war überall laut zu hören. Aber bei uns waren die Hauptrevolutionäre ziemliche Machos. – Wegen Ihrer damaligen Haltung wurden Sie von Ihren politischen Gegnern später heftig attackiert. Ich glaube, gelesen zu haben, dass Sie sogar von der Bundeskanzlerin dafür gerügt wurden.
FISCHER Da war sie aber noch Oppositionsführerin. Es gab eine Fragestunde im Parlament, wo meine Rolle in der Frankfurter Sponti-Szene ausgeleuchtet werden sollte, und in diesem Zusammenhang monierte Frau Merkel vor dem Deutschen Bundestag, dass ich mich «nur für das Steinewerfen» entschuldigt hätte, dass ich aber offenbar noch immer der Meinung sei, die 68er hätten «einen Beitrag zur Befreiung geleistet». Dieser Meinung bin ich tatsächlich noch immer. Im Übrigen haben die Frauen im SDS den Machos dieses Verhalten schnell ausgetrieben, und dann kam
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