Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
tun.
FISCHER Ja, das gilt auch gegenüber den Großvätern. Manchmal denke ich mir: Mein Gott, waren wir gnadenlos. Da spielte natürlich auch Selbstgerechtigkeit rein. Und im Hintergrund tobte eine Art kalter Bürgerkrieg zwischen den beiden deutschen Staaten, eingebettet in den globalen Kalten Krieg. Selbst der Umgang mit der jüngeren deutschen Geschichte – wie diese feine diplomatische Formel lautet – war geprägt durch die Interessengegensätze im großen Kalten wie im kleinen, nämlich innerdeutschen Kalten Krieg.
STERN Geh’ doch nach drüben, lautete das Standardargument gegen die Linken.
FISCHER Das war die mildeste Form. Es gab drei Steigerungsstufen, die mildeste war: «Geh nach drüben.» Die mittlere Form war: «Ab ins Arbeitslager», und die schärfste Form war: «Ihr gehört alle vergast». Mit solchen Sprüchen wurdest du andauernd konfrontiert, wenn du bei Demos warst oder in Diskussionen …
STERN Das haben Sie so gehört?
FISCHER Nicht nur ich und nicht nur einmal. Das wurde einem von Männlein und Weiblein mit hassverzerrtem Gesicht entgegengeschleudert. Ich habe als Antwort die Formel entwickelt, ja, schon recht, die Besten sind im Felde geblieben, da ist was Wahres dran. Das hat nicht selten knapp an einer tätlichen Auseinandersetzung vorbeigeführt. Die Erfahrung von Gewalt ist im Übrigen nicht zu unterschätzen. Ostern 1968 wurden meine damalige Ehefrau und ich richtig durchgeprügelt – ich wusste bis zu diesem Tag gar nicht, wie das geht mit der Gewalt. Das war am Ostermontag, vier Tage nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Wir saßen da friedlich in Frankfurt an der Galluswarte und blockierten die Springer-Produktionsstätten in der Societäts-Druckerei in der Frankenallee. Plötzlich kam von vorne und von hinten Polizei, und wir waren eingekesselt. Meine damalige Frau erlitt einen richtigen emotionalen Schock. Als ein Berittener mit einem langen Knüppel direkt auf sie zu ritt, riss ich sie zu Boden, und dann fielen sie über mich her. Ich sah gut aus hinterher, und auch das war ein psychischer Schock.
STERN Das war sicher prägend. Ich nehme an, von diesem Tag stammen auch die Fotos vom Steinewerfer.
FISCHER Nein, nein, die inkriminierten Bilder wurden später aufgenommen, zu einem Zeitpunkt, wo ich meine Angst überwunden hatte und zum ersten Mal einem Polizisten alleine entgegengerannt bin. Dass die anderen hinterherkamen, war nicht vorgesehen. Ich suchte die Eins-zu-eins-Situation, um meine Angst zu überwinden, denn seit Ostermontag hatte ich panische Angstzustände bei Demonstrationen, sobald es anfing konfrontativ zu werden. Immer wieder dachte ich darüber nach, wie kannst du es umdrehen, wie schaffst du es, da rauszukommen. Wenn ich meine damaligen Vorstellungen von Gewalt heute überdenke, muss ich sagen, es fehlte der ganzen Bewegung ein wesentliches Unterscheidungskriterium: Man wollte für mehr Gerechtigkeit kämpfen, hatte aber keinen Sinn für Recht. Wenn ich an 1968 noch etwas kritisiere, dann dieses grauenhafte Kauderwelsch, da wurde viel rhetorisches Stroh gedroschen, die Reden von Dutschke oder Hans-Jürgen Krahl kann man heute kaum noch verstehen. Den entscheidenden Punkt aber mussten sie sich von Jürgen Habermas erklären lassen. Damals war ich schockiert, als er das Wort vom Linksfaschismus in die Welt setzte. Aber genau hier liegt die entscheidende Differenz: in der Verpflichtung auf das Recht und auf die Verbesserung der Institutionen, nicht im Austausch der Personen an der Spitze.
STERN Das ist eine interessante Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit. Sie wollten Gerechtigkeit und haben vergessen, dass es um Recht geht, verstehe ich Sie da richtig?
FISCHER Ja, völlig, den Unterschied habe ich damals überhaupt nicht verstanden.
STERN Sie wissen, dass dieser Gegensatz nach der Wende vielfach zu hören war? Millionen Ostdeutsche wollten Gerechtigkeit, und stattdessen haben sie Recht bekommen.
FISCHER Gott sei Dank.
STERN Die Beteiligten, allen voran die Opfer der Stasi-Willkür, haben das wahrscheinlich anders gesehen.
FISCHER Das habe ich bei Wolf Biermann nie verstanden. Wir Deutschen sind komische Zeitgenossen, was Revolutionen angeht. Wir tun uns auf merkwürdige Art und Weise schwer damit, für uns muss von vornherein alles prinzipiell geordnet sein. Ich meine, nach einer Revolution gibt es drei Tage der Gesetzlosigkeit, wo auch Dinge geschehen, die
Weitere Kostenlose Bücher