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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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alles andere als gerecht sind, wo Abrechnungen vorgenommen werden, auch persönliche Abrechnungen, aber dann endet das, und ein neues Recht setzt sich durch. Im November 1989, als die drei Tage da waren, konnte man Sprüche hören wie «Stasi in die Produktion», aber es passierte gar nichts, es wurde keine wirklich revolutionäre Justiz geübt, worüber ich sehr froh bin. Nach ein paar Monaten, als die drei Tage längst um waren, hieß es dann plötzlich: Wo bleibt die Abrechnung? Das ist etwas, was ich nicht verstehe. Revolutionäre Veränderungen müssen in ein neues Recht führen, und Gerechtigkeit ohne Recht gibt’s nicht. Für die Abrechnung bleiben nur die drei Tage oder ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren.
    STERN    Glauben Sie, dass die Bundesrepublik Deutschland heute anders aussehen würde, wenn es im November 1989 diese drei Tage gegeben hätte oder auch meinetwegen im Januar 1990?
    FISCHER    Nein, und wie gesagt, ich bin heilfroh, dass es diese drei Tage nicht gegeben hat. Später hat man dann die Prozesse im Rahmen des bundesrepublikanischen Rechtssystems gemacht, aber auch da habe ich meine Zweifel. Das große Verbrechen waren nicht nur die Schüsse an der Mauer, sondern ein ganzes Volk einzusperren mit der Konsequenz, dass dann auch geschossen wurde. Aber das passte natürlich nicht ins deutsche Strafrecht, die Frage nach der politischen Verantwortung ist da nicht wirklich vorgesehen. Aber das ist doch der eigentliche Punkt, um den es ging.
    STERN    Es ging in den so genannten Mauerschützenprozessen aber auch immer um den Einzelnen, den so genannten Täter, der sich brutal benommen hat.
    FISCHER    Das ist der Tatbestand, der im Strafrecht vorgesehen ist. Aber die Beraubung von Grundrechten wurde nicht verhandelt, dafür mussten sich die Krenz und Honecker und all die anderen nicht verantworten. 17 Millionen Menschen in der DDR wurden ja spätestens 1961 wesentlicher Grundrechte beraubt, das darf man nicht vergessen.
    STERN    Nicht schon früher? Ich will aber hinzufügen, dass 1933 die Deutschen schon einmal ihrer Grundrechte beraubt wurden und dass sie es hingenommen haben.
    FISCHER    Gewollt, nicht hingenommen. Also, viele haben es gewollt.
    STERN    Nein, man muss einen Unterschied machen zwischen denen, die es gewollt haben, und denen, die es hingenommen haben.
    FISCHER    Viele haben es gewollt und fanden es eigentlich gut, dass hart durchgegriffen wurde.
    STERN    Aber lieber Joschka, es gab die Kommunisten, es gab die SPD.
    FISCHER    Ja, ich stimme Ihnen ja zu, wir sind da nicht auseinander.
    STERN    Ich komme mal zurück auf unser Thema. Die Studentenbewegung in Amerika fängt an – wenn man das so sagen kann – mit einem Aufruf, der sich «Port Huron Statement» nannte. Initiiert wurde der Aufruf von der Students for a Democratic Society, dem amerikanischen SDS. Das war 1962, und da spielten Gerechtigkeit und Rassengleichheit eine ganz große Rolle. Das Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit nahm damals seinen Anfang: links, nicht linksradikal, aber linksbewusst und vor allem freiheitsbewegt. Das änderte sich dann in den Jahren bis 1968, und zwar an den Universitäten selber, und am Ende war das Wort von Habermas vom Linksfaschismus absolut angebracht – auch ich habe das damals für richtig befunden.
    FISCHER    Auf der anderen Seite gab es die Schüsse in Kent State …
    STERN    Das war 1971.
    FISCHER    Und bei uns die Schüsse auf Benno Ohnesorg. Inzwischen haben wir in einem erschütternden Maße alles bestätigt bekommen, was wir damals an Vorurteilen hatten, weil rausgekommen ist, dass der Polizist gezielt geschossen hatte, ohne Grund.
    STERN    Und dass im Hintergrund die Stasi wirkte.
    FISCHER    Wobei für mich interessant wäre zu erfahren, warum ein Stasimann so akzeptiert wird und sich so wohl fühlt in der Westberliner Polizei. Auf jeden Fall hat er gezielt erschossen, aber das führt leider nicht mehr zu strafrechtlichen Konsequenzen. Ein Dreivierteljahr später hat dann der Anschlag auf Rudi Dutschke die Gewaltschranke gewaltig nach unten gedrückt. Man fühlte sich irgendwie an die Endphase von Weimar erinnert und fürchtete, dass die Linken wieder zur Schlachtbank geführt werden sollten – und da war die Reaktion natürlich: nee, Freunde.
    STERN    Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel für überzogene Furcht. Die Situation ist aber mit Weimar nicht vergleichbar gewesen. «Weimar» gehört zu jenen

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