Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Abtreibung nehmen oder neuerdings den Kampf gegen Gay Marriage: Das alles sind Glaubenskriege, bei denen es immer auch um das Selbstverständnis der weißen Rasse geht. Ich finde es im Übrigen schade, dass das Thema Gay Marriage im Wahlkampf von Obama so hochgespielt wurde, das war der falsche Zeitpunkt.
FISCHER Meine Erfahrung mit den Gay Issues ist: Es ist nie die richtige Zeit. Es muss gemacht werden. Vorurteilsbeladene Gruppen, die das aufgreifen, finden sich immer und überall. Aber wenn ich mir die Veränderungen zum Beispiel im US-Militär anschaue – die Beendigung des Prinzips «Don’t ask, don’t tell», das ja eine feine Umschreibung dafür war, dass man keine Homosexuellen in der Armee haben wollte –, dann sind schon beeindruckende Fortschritte erzielt worden. Ich glaube, dass Gay Marriage für die übergroße Mehrheit in den USA heute kein Thema mehr ist. Die ganzen Gay-Fragen wurden doch alle zuerst in Amerika thematisiert, zwanzig Jahre früher als bei uns. Das Thema Frauen in den Vorständen hat man in Europa gerade heute erst entdeckt. Das ist ja das zutiefst Widersprüchliche an diesem Land: Da gibt es einerseits diese kulturelle Spaltung und auf der anderen Seite eine Veränderungsdynamik, auch im Bereich der Werte, die bei uns kaum denkbar ist. Wir ziehen in der Regel dann nach. Die USA sind für mich, der die Dinge von außen sieht, ein faszinierendes Land.
STERN Das weiß ich – und deshalb lohnt sich auch jedes Engagement. Nur ist es mir im Augenblick etwas zu faszinierend. Ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn es über die Themen, die wir eben angesprochen haben, tatsächlich eine öffentliche Diskussion gäbe, wenn Argumente ausgetauscht würden und am Ende die jeweils beste Lösung herauskäme. Aber es ist ein Kulturkampf, wie ich schon sagte, in dem leider mit ungleichen Mitteln gekämpft wird. Der einen Seite stehen schier unbegrenzte Mittel zur Verfügung, und sie kämpft verbissen, die andere Seite verfällt zusehends in politische Lethargie.
FISCHER Woran machen Sie das fest?
STERN Leider Gottes muss man sagen, dass ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung von wichtigen Informationen abgeschnitten ist. Wer eine extreme Position hat, kann den ganzen Tag über «seinen Sender» hören und bezieht von dort alle seine Informationen, die natürlich entsprechend gefiltert und aufbereitet sind. Das führt nicht nur zu einer allgemeinen Verdummung, sondern auch zu einem abnehmenden Interesse am öffentlichen Wohl. Die Folge ist ein sinkendes Vertrauen in die Institutionen einschließlich der etablierten Kirchen. Der Vertrauensschwund erstreckt sich inzwischen auch auf die Wirtschaft, weil die Menschen merken, dass das Ausmaß an Korruption ungeheuer ist. Die Kluft zwischen den unteren und oberen Einkommensschichten wird immer größer. Selbst der Supreme Court, der früher als das höchste Symbol der Unabhängigkeit der Rechtsprechung gesehen wurde, wird in diese Kämpfe hineingezogen, wie das Super-PAC-Urteil zeigt.
FISCHER Kann man es nicht einfacher machen? Wir haben uns angewöhnt, die USA als eine einheitliche Nation zu sehen, als einen Staat, eine Wirtschaft, eine Währung. Und jetzt erkennen wir ein doppeltes Problem: Auf der einen Seite wird die bisherige Majorität, weiß und männlich dominiert, zunehmend in Frage gestellt, auf der anderen Seite ist der Wohlstand stark auf diese kommende Minorität der Weißen konzentriert. Und noch etwas. Sie sprachen eben vom Ressentiment der älteren weißen Männer. Der weiße, europäischstämmige Teil der amerikanischen Bevölkerung, der zugleich über den größten Teil des Wohlstands und des Reichtums der Nation verfügt und über den größten Einfluss, befindet sich zugleich in einem Alter, wo man sich diffus gefährdet fühlt – ein Syndrom, das auch in anderen westlichen Nationen vorhanden ist. Dann gibt es noch einen afroamerikanischen Präsidenten. Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass die Tea-Party-Bewegung genau in dem Augenblick losgetreten wurde, als Barack Obama Präsident wurde; da gibt es aus meiner Sicht zahlreiche Verbindungen. Man glaubt, indem man nach rechts rückt, seinen Reichtum zu schützen, seine Sicherheit zu schützen, was auch immer. Das ist eine Entwicklung, die wir aber nicht nur in Amerika beobachten. Ich glaube, es ist eine generelle Herausforderung des Westens.
STERN Es drückt sich in Amerika klarer aus, würde ich sagen. Auch die Opposition gegen
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