Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
also schon sagen, dass es berechtigt ist, die Frage zumindest aufzuwerfen: Ist das Land noch regierbar?
FISCHER Es gibt einen Unterschied zwischen der Demokratie hier in Deutschland und der amerikanischen Demokratie. Bei uns wird grundsätzlich nach einem Kompromiss gesucht, alles strebt sozusagen in die Mitte, um sich dort zu vereinigen, während in Amerika die Mitte sich gar nicht im Konsens einigen muss, sondern es geht eben ein bisschen mehr nach links, ein bisschen mehr nach rechts, mal haben die einen Oberwasser und mal die anderen, aber man muss die Abweichungen von der Mitte insgesamt nicht so dramatisch sehen.
STERN Das ist an und für sich völlig richtig – für die Vergangenheit. Ob es für die Gegenwart ebenso richtig ist, bezweifle ich. Ich zögere ein wenig bei dem, was ich sage, weil ich fürchte, es könnte von Ihnen rein parteipolitisch aufgefasst werden, aber so meine ich es nicht. Ich meine tatsächlich, wie kann es, wie soll es überhaupt weitergehen, wenn es das Ordnungsprinzip der einen Seite ist, den Staat – abgesehen von der Verteidigung – auf das Minimum zu reduzieren. An und für sich sind die Amerikaner stolz darauf, dass sie den Staat nicht nötig haben, jedenfalls reden sie sich das gerne ein, das hat eine lange Tradition – darüber sprachen wir ja schon. Aber groß geworden ist das Land, weil es einen Staat gab, der den Fortschritt finanzierte.
FISCHER Wenn wir diese Frage wirklich komplex diskutieren wollen, dürfen wir nicht übersehen, dass es sich bei vielen Neokonservativen um ehemalige Linke handelt, also um Renegaten. Die Väter der Neokons kommen alle aus der New Yorker Linken der dreißiger und vierziger Jahre, meistens Trotzkisten.
STERN Sowohl das Umfeld von Rumsfeld als auch das von Cheney ist voll gewesen mit Neokons, die irgendwann einmal links waren.
FISCHER Ja. Und deswegen war mir auch klar, dass das im Irak schiefgehen muss. Nach dem 11. September wurde von denen letztendlich eine fast schon trotzkistisch anmutende Form von permanenter Revolution entwickelt. Wenige Tage nach dem 11. September war ich in Washington im Verteidigungsministerium, und da hat mir Paul Wolfowitz, der stellvertretende Verteidigungsminister, gesagt, es gibt über sechzig Staaten auf der Welt, die den Terrorismus finanzieren, unterstützen oder selber aktiv betreiben, wir werden uns um die alle kümmern und werden dabei keine falschen Differenzierungen vornehmen. Da hatte ich die permanente Revolution von Trotzki plötzlich vor Augen, nur ging es nicht um Sozialismus oder Ähnliches, sondern darum, die Welt zu einem sicheren Ort zu machen, und das Werkzeug war nicht mehr die Rote Armee, sondern die US-Armee, aber von der Struktur her war es dasselbe. Es gab noch einen zweiten Punkt, weshalb ich sicher war, dass das schiefgeht: der Glaube an die Herrschaft der Ideologie über die Realität. Sie haben die Realität einfach ignoriert, oder besser, weil ihnen die Realität nicht passte, wurde sie eben passend gemacht.
STERN I am not convinced, Joschka!
FISCHER Yes, I was not convinced. Aber dafür gab es ja die Macht der USA. Es kommt aber noch etwas hinzu. Die USA sitzen auf dem höchsten Gipfel der Macht, international gesehen. Wenn es darum geht, in dieser obersten Sphäre der großen Mächte Politik zu betreiben, war ihr Urteil in der Regel richtig, vor allen Dingen, wenn es um Europa ging, und auch gegenüber der Sowjetunion. Sobald es aber in die Niederungen geht, um das, was sich in den Tälern abspielt, bin ich voller Misstrauen gegenüber der Politik der USA. Der Blick von oben in die nebel- und wolkenverhangenen Täler ist nicht gut, da neigen die USA dann zu einem lässigen Ignorieren der Fakten. Vietnam ist das beste Beispiel, und das war für mich als Angehöriger der Anti-Vietnam-Bewegung der dritte Grund zu sagen, das mit dem Irak geht schief. Leider hatte ich Recht.
STERN Sie hatten hundertprozentig Recht – und die Katastrophe ist noch nicht vorbei. Was Sie über die amerikanische Außenpolitik sagen, will ich noch einmal unterstreichen. Man muss sich nur vergegenwärtigen, wo das Land 1941 stand und dass Roosevelt es aus dem Isolationismus sozusagen mit Gewalt herausziehen musste – wobei ihm die Japaner in Pearl Harbor, zynisch gesagt, dankenswerterweise geholfen haben. Roosevelt hat es ungeheuer klug angefangen, nachdem er sehr genau und schon lange vor München die Gefahr erkannt hatte, die von Hitler ausging –
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