Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Die Ökonomie ist zum entscheidenden Faktor geworden.
STERN Generell stimme ich Ihnen zu. Aber auch wenn das Bewusstsein, dass die Ökonomie der entscheidende Punkt ist, vielleicht nicht immer so ausgeprägt war, so würde doch niemand bestreiten, dass die Ökonomie immer eine große Rolle gespielt hat und die wirtschaftlichen Auf- und Abschwünge von großer Bedeutung waren für die politischen Entscheidungen. Und wo ist überhaupt die Ideologie? Im Nationalismus? Und bei uns in aufgewärmtem Neoliberalismus à la Hayek.
FISCHER Es gibt keinen Markt – korrigieren Sie mich, Fritz –, historisch gesehen, der ohne Staat entsteht. Denn der Markt ist ja nicht ein staatsfreier Raum, sondern er ist ein durch die politische Macht mit bestimmten Regeln ausgestatteter, befriedeter Raum, in dem dann der Wettbewerb stattfinden kann. Historisch sind so die Marktplätze entstanden, indem ein befriedeter Raum entstand, der durch eine politische Macht organisiert und garantiert wurde. Der Marktplatz war nichts, was Kapitalisten oder Kaufleute entwickelt haben, sondern es war eine politische Entscheidung, solche Plätze einzurichten.
STERN Ich glaube, es war mehr eine Mischung, eine Mischung aus politischen und wirtschaftlichen Interessen. Aber zu glauben, dass der sogenannte freie Markt alles von selbst regeln kann, ist reiner Blödsinn. Das ist Götzentum. In Massachusetts gibt es eine erstklassige Kandidatin für den Senat, Elizabeth Warren, die das Problem auf den Punkt gebracht hat. Sie bewundere die jungen Entrepreneurs, spottete sie, die ganz allein von sich aus was Großes aufbauen – das heißt, sie benutzen die öffentlichen Straßen, sie benutzen das Wasser, den Strom, die Müllabfuhr, sie benutzen alles, was vom Staat gebaut und bezahlt wird …
FISCHER Tax pay is money.
STERN Tax pay is money. Und dann wollen sie den Leuten einreden, dass sie das alles alleine geschafft haben. Blödsinn. Die Infrastruktur ist durch die ungeheure Expansion des Verteidigungshaushalts und durch das Haushaltsdefizit allerdings in einem sehr schlechten Zustand. Obama hat das verstanden und wollte es verbessern, aber die Republikaner sind stur dagegen.
FISCHER Wissen Sie was, Fritz? Während wir hier so reden, entdecke ich, wie sehr ich doch Europäer bin.
STERN Ich schweige.
FISCHER Ja?
STERN Ich schweige aus dem einfachen Grund, weil ich einerseits amerikanischer Bürger bin und, wie ich glaube, ein tief engagierter amerikanischer Bürger, aber andererseits das Europäische immer noch da ist. Ich kann gut verstehen, was Sie meinen.
FISCHER Ich frage mich, wie sehr gerade die ältere Generation, nicht Ihre Generation, sondern die ältere Generation …
STERN Noch älter?
FISCHER Ja, damals, die Generation Ihrer Eltern und Großeltern, die Emigranten aus Europa, was es für diese Menschen bedeutet haben muss, in den USA anzukommen, die ja damals noch sehr anders waren, sehr anders jedenfalls als die Länder, aus denen sie kamen.
STERN Das war verdammt schwer, eigentlich für alle, mit einigen Ausnahmen. Aber die meisten haben sich mehr oder weniger gut durchgesetzt. Ich kann von dem Land, in das ich 1938 gekommen bin, nur schwärmen, trotz der Rezession, die es damals gab. Und dieses Land sehe ich jetzt mit großer Sorge. Was mich besonders bedrückt, ist, dass heute beide Teile des Westens, wenn ich so sagen darf – Amerika und Europa –, in einer tiefen Krise stecken. Eigentlich sind es zwei verschiedene Krisen, eine Krise in Europa und eine Krise in Amerika.
FISCHER Was ist die amerikanische Krise?
STERN Die ist schwer zu definieren. Am ehesten lässt sie sich für mich in der Frage zusammenfassen: Ist das Land noch regierbar? Ja, so weit gehe ich. Das Ausmaß an Hass, das jetzt in Amerika existiert, ist größer, als ich das je erlebt habe. Die Republikaner betreiben eine kategorische Opposition und lehnen jede Zusammenarbeit mit den Demokraten ab. Ich sage es mit einem gewissen Vorbehalt, weil ich den Vergleich mit Weimar sonst scheue und für falsch halte, aber wenn die Republikaner das Wort Kompromiss beinah als ein Schimpfwort benutzen, dann erinnert mich das an die Zustände in Deutschland Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Auch die republikanische Partei selbst hat sich durch die Tea Party grundlegend geändert; liberale Republikaner, so genannte liberale Republikaner, werden einfach rausgedrängt. Ich würde
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