Gegen jede Regel
oder?«
Sie blickte auf, von meiner Frage herausgerissen aus Trauer
und Lethargie, und starrte mich mit groÃen Augen an. Bestimmt hatten Karls
hellseherische Fähigkeiten über die Jahre auf mich abgefärbt.
»Nein«, sagte sie mit dem Hauch einer Stimme, sodass ich
ihre Antwort mehr von den Lippen ablesen musste, als dass ich sie wirklich hören
konnte. Ihre Augen begannen zu schimmern und sie senkte den Blick.
Ich machte eine kurze Pause. Herr Werle hatte in seinem
Büro eine Packung Taschentücher auf dem Tisch liegen. Im Meditationsraum gab es
keine.
»Hast du es denn versucht?«, fragte ich. »Am Wochenende?«
Sie nickte und begann stockend zu berichten. Auch sie hatte
das abgeschaltete Handy als klare Botschaft genommen, dass Tobias nicht hatte gestört
werden wollen. Sie bestätigte Jans Aussagen über die gemeinsamen Abende. In der
entscheidenden Zeit am Sonntagabend wurden ihre Angaben aber ebenso dürftig wie
die der anderen.
Obwohl ich versuchte, mich von der Ergebnislosigkeit der
Befragungen nicht beeindrucken zu lassen, gelang es mir nicht vollständig. Als
Heike sich verabschiedete, tauschte ich mit Lucas einen besorgten Blick.
»Im Westen nichts Neues«, sagte er.
Ich stimmte ihm zu. Und vielleicht war die Spur der Schüler
damit so etwas wie eine Sackgasse. Ich war gespannt, ob Nina mehr erreicht
hatte. Wir trafen Herrn Werle auf dem Flur und schlugen gemeinsam den Weg zu
seinem Büro ein.
Ich fragte: »Wer kümmert sich um die Schüler?«
Der Sozialpädagoge schnaubte. »Was glauben Sie denn?«
»Der Schulleiter hat Sie damit beauftragt.«
»Ich habe dem Schulleiter gesagt, dass das wichtig sei
und ich dafür Zeit benötige. Wir haben eine halbe Stunde diskutiert, bevor er
nachgegeben hat.«
Ich musste lächeln. »Die Schüler haben Glück im Unglück.«
»Ich kann nicht die ganze Betreuung selbst gewährleisten.
Aber ich habe die Koordination übernommen und befreundete Therapeuten gebeten,
mit den Familien Kontakt aufzunehmen. Ich habe die Familien mit einbezogen. Jan
ist Einzelkind, aber die anderen haben Geschwister und Eltern, mit denen man
reden kann. Ich habe sie informiert, womit zu rechnen ist und worauf sie achten
sollen.«
Obwohl ich darauf spekuliert hatte, war es beruhigend,
das noch einmal zu hören.
Als wir an seinem Büro ankamen, war Georg Werle gleich
gefordert. Nina stand mit einer in Tränen aufgelösten Jessica in der Tür. Er
tauschte einen Blick mit Nina, musterte Jessica für zwei weitere Sekunden, dann
griff er zu seinem Handy. »Deine Schwester kommt in fünf Minuten«, sagte er
nach einem kurzen Gespräch und führte Jessica am Arm wieder in das Zimmer zurück.
Wir verabschiedeten uns mit stummen Gesten. Schweigend
gingen wir durch die Flure der Schule. Ich spürte, wie aufgewühlt Nina war,
aber solange wir im Schulgebäude waren, konnten wir nicht offen sprechen.
Vielleicht war es auch ganz hilfreich, diese erzwungene Pause einzulegen, bevor
wir uns austauschten.
Â
Wir atmeten beide gleichzeitig mit einem lauten
Seufzer aus, als wir die Autotüren zuschlugen.
»Mein Gott, was für ein Fall«, sagte Nina. »Jessica ist
am Boden zerstört. Tobias war die Liebe ihres Lebens, ihre Inspiration, ihre
Welt. âºEr war meine Weltâ¹, hat sie wörtlich gesagt.«
Nina seufzte erneut und atmete tief ein und aus. Sie erinnerte
mich an mich selbst in meinen ersten Monaten beim Morddezernat. Nichts, was wir
in unserer Ausbildung auf der Polizeihochschule lernten, keine Dienstvorschrift
und auch kein Tipp von Kollegen, konnte uns auf das vorbereiten, was uns bei
einer Mordermittlung erwartete.
Mit ein wenig Ãberwindung und Gewohnheit konnte man es
schaffen, eine Leiche rein technisch und nicht als tote Person zu sehen. Doch
wenn die Ermittlungen begannen, wenn wir die persönlichen Gegenstände des
Opfers untersuchten, wenn wir in sein Leben eindrangen und seine intimen Geheimnisse
aufdeckten, schrumpfte die Distanz, die für uns so wichtig war.
Empathie war ein Segen, wenn man auf der Suche nach
Motiven war. Sie war ein Fluch, wenn man Personen befragte, die das Opfer
geliebt hatten. Keine VorsichtsmaÃnahme, keine Rettungsleine und kein Rezept
aus der Ausbildung konnten verhindern, dass wir manchmal dem Sog erlagen, den
die Gefühle der Angehörigen erzeugten. Ehe wir uns versahen,
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