Gegen jede Regel
daran zu erinnern, warum ich
überhaupt hier war und ob ich auch deshalb zufrieden sein konnte, weil ich
erreicht hatte, was ich wollte. Ich hatte verstanden, wie ich die Elemente in
Tobiasâ Leben einordnen musste, und ich war darin bestärkt worden, dass sowohl Elisabeth
Veen als auch Elias Grams als Täter infrage kamen. Und genau deshalb war ich
hergekommen.
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»Jetzt mal unter uns«, sagte Marla im Verhörraum
in vertraulichem Tonfall zu Elisabeth Veen. Der böse Egon war nicht anwesend
und sie versuchte, die gute Polizistin zu spielen. »Wenn ich einen Mann hätte,
der sich nicht für mich interessiert und dann diese ganzen Oberstufenschüler in
meiner Klasse ⦠Ich würde da einigen gern Nachhilfeunterricht geben. Nicht nur
in Englisch.«
Die Art und Weise, wie Marla das sagte, klang echt. Vielleicht
kaufte ich es ihr aber auch deshalb ab, weil ich sie schon ein wenig länger
kannte. Der Haken an dieser Taktik war, dass sie es im Verhörraum zu einer
Verdächtigen sagte. Und die war nicht dumm. Die Englischlehrerin war zwar
sichtlich weichgeklopft, aber auf diese plumpe Weise noch nicht zu kriegen.
Die Vorstellung ging weiter, als Egon durch die Tür hereingestürmt
kam. Er hielt einen Zettel in der Hand. »Frau Veen, ich habe Neuigkeiten für
Sie. Erinnern Sie sich noch an die Speichelprobe, die wir von Ihnen genommen
haben?«
Elisabeth Veen nickte stumm, mit aufgerissenen Augen.
Verschüchtert starrte sie Egon an, unfähig sich zu bewegen, wie ein Reh,
gefangen in seinem zwingenden Ermittlerblick.
Egon blieb vor ihr stehen und lieà das Papier auf den
Tisch vor ihr flattern. »Wir haben diese Speichelprobe mit einer Probe
verglichen, die wir von einem Laken im Gästezimmer der Maiers genommen haben.«
Er lieà seine Worte im Raum stehen und wahrte damit die empfindliche Grenze
zwischen Suggestion und Lüge.
Dann brach Elisabeth Veen zusammen. Ihre sorgfältig
aufgebaute Maske aus kühler Distanziertheit mit der überlegenen Attitüde der
Oberstudienrätin kollabierte so plötzlich und vollständig, dass ich mich
wunderte, warum weder Krachen noch Knall zu hören waren. Stattdessen begann sie
stumm zu weinen.
Egon richtete sich wieder auf, lächelte zufrieden und
zwinkerte uns durch den Einwegspiegel triumphierend zu. Wenn ich noch eins und
eins zusammenzählen konnte, hatten die beiden für diesen Durchbruch über eine
halbe Stunde gebraucht.
Frau Veen weinte und Egon setzte sich hin und wartete. Er
gab kein Stichwort mehr vor und keine Frage. SchlieÃlich sagte die Lehrerin
kaum hörbar: »Ich war bei ihm.«
Egon hatte blitzschnell umgeschaltet, denn jetzt ging es
nur noch darum, die Informationen einzusammeln und die Aussage zu
dokumentieren. Die Veen würde uns nun alles sagen, was wir wissen wollten. »Wie
kam es dazu?«
»Wir hatten E-Mails geschrieben. Und zu Hause ⦠Mein Mann
⦠Es war unerträglich. Ich wusste, dass Tobias alleine war.«
»Also sind Sie zu ihm gefahren.«
»Ja.«
Es gab keine Vorwürfe und Vorhaltungen, dass sie zuvor
gelogen hatte. Stattdessen fragte Egon: »War er da nicht überrascht?«
»Natürlich. Aber ich bin einfach hineingegangen.«
»Was ist dann passiert?«
»Er ⦠Ich ⦠Es war einfach ⦠Ich hatte mich nicht unter
Kontrolle. Ich war so verzweifelt. Ich wollte einfach nur, dass mich jemand
wahrnimmt. Dass ich ein Mensch bin. Und eine Frau.«
Ich fand, das war eine recht poetische Umschreibung für
blindes Verlangen. »Und das hat Tobias?«
»Ja. Wir ⦠Wir haben â¦Â«
»Sie hatten Sex?«
»Ja.«
»Im Gästezimmer.«
»Ja.«
»Und dann?«
»Es war so ⦠Es ist schwer zu beschreiben. Es fühlte sich
so gut an, so richtig. Und gleichzeitig vollkommen falsch.«
»Was haben Sie danach getan?«
»Ich war ganz durcheinander. Wir hatten uns E-Mails geschrieben.
Wir hatten Sex. Tobias wusste mehr über mich als jeder andere Mensch. Aber
nachdem wir miteinander geschlafen hatten, wurde mir erst klar, dass wir
überhaupt keine Beziehung hatten. Ich war gleichzeitig seine Lehrerin. Wir
konnten uns nicht einmal über etwas Belangloses unterhalten.«
Es musste wie in einem Albtraum gewesen sein. Elisabeth
Veen hatte aus Verzweiflung eine Grenze überschritten, die sie um ihre Existenz
bringen konnte, nur um
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