Gegenwinde
berühren. Das hätte der Kleinen gefallen, dachte ich.
Nadine sah kaputt aus, aber seltsam strahlend, ihre Augen leuchteten, und das zu einem Knoten geschlungene lange Haar ließ ihren Nacken frei. Ein mit roten und blauen Perlen besetztes Stück Holz hielt das Ganze, man fragte sich, wie. Im Büro hing ein Duft nach Kaffee und Schnittblumen, es war stets der gleiche, wie aus der Vergangenheit und der Kindheit aufgestiegen. Sie blätterte in einer alten Elle , eine mitten zwischen die Autozeitschriften geratene Emmanuelle Béart zeigte mehr als nötig. Ich ließ mir nichts entgehen. Sie gab mir seufzend meinen Zettel, es hatte sich etwas geändert, es ändert sich so oder so ständig etwas, sagte sie müde, jeden oder fast jeden Tag, wenn es etwas gibt, was sich nicht ändert, dann ist es das. Ich dachte einen Moment darüber nach, dann nahm ich die Schlüssel des Clio und hauchte ihr ein Küsschen zu. Vor mir erhob sich trist und düster die Kirche, eine alte Omi trat ein, sie zog einen Einkaufstrolley aus Schottenstoff und ging so gebeugt, dass sie winzig schien, kaum größer als ein Kind. Für wen würde sie beten? Ich startete und fuhr los, ich hätte mit geschlossenen Augen steuern können, die Straßen spulten die alten Routen, die vertrauten Strecken ab. Am Ende der Sackgassen erblickte man das Meer und ein Stück Strand, und über allem pulsierte der Himmel. Ich hatte nicht mehr an das Geheimnis des Herbstes hier gedacht, das intensive, grelle Licht, das über dem Wasser lag, die Luft, die plötzlich peitschen konnte, wenn sie über einen strich, die Wüstenei der den Vögeln überlassenen, mit hohen Gräsern gespickten Dünen, die Wildheit der Küste, das Tiefgrün des Kliffs, das dunklere Grau der Inselchen und Landzungen, die stille Stadt, die nach den Menschenmassen des Sommers plötzlich wie ausgestorben war, die Flut, die gegen die Deiche donnerte, als wollte sie sie einreißen, die in hohen Fontänen bis auf die Straßen spritzte, sie unbefahrbar machte, begierig, alles unter sich zu begraben. Ich bog in die Rue des Marais ein, das Haus war nicht wiederzuerkennen. Im Lauf der Zeit hatten die neuen Besitzer es umgestaltet, und ich hätte nicht sagen können, ob es nun schöner oder nicht mehr so schön war. Es war einfach anders, es war nicht mehr das Haus, das ich gekannt hatte, in dem Alex und ich erwachsen geworden waren, in dem mein Vater und meine Mutter die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatten, bevor sie mit dem Auto ein Geländer durchbrachen und in der Rance versanken. Über die Lorbeerhecke hinweg zählte ich zusammen, was verschwunden war. Der alte Kirschbaum, von dem an einem dicken Seil ein Autoreifen hing, Papa hatte ihn für die Enkelkinder angebracht, noch bevor sie kamen, und letztlich hatte nur Sarah ihn benutzt, in der Abenddämmerung hatte sie sich um sich selbst gedreht, den Blick ins Laub und in den Himmel gerichtet. Die betonierte Terrasse mit dem Grill aus rotbraunen Backsteinen, der Gemüsegarten mit den Tomaten dem Salat den Karotten, die Beerensträucher meiner Mutter, Brombeeren Himbeeren rote und schwarze Johannisbeeren, das Birnenspalier an der Mauer. Das Haus war weiß verputzt statt blassblau wie in meiner Jugend, die Umrandung der Fenster war nicht mehr in einem kräftigeren Blau gehalten, sondern jetzt blassgelb, und Plastikrollläden ersetzten die alten Holzläden. Ich fuhr an der Mauer entlang, auf dem gepflegten Rasen lagen ein Fahrrad, ein Ball und ein großer roter Spielzeuglaster. Auf hölzernen Dielen stand ein himbeerrosa gestrichener Tisch zwischen vier Teakstühlen. Hinter dem Küchenfenster trank eine Frau in den Vierzigern ihren Tee, vor ihren Augen stritten sich die Vögel um den in den Zweigen des Kirschbaums hängenden Fettknödel. Ich schaute mir das alles an, und es bedeutete mir nicht viel. Wir waren nicht mehr hier, weder meine Eltern noch ich noch mein Bruder, Orte bewahrten nichts, sie gaben sich dem Erstbesten hin und löschten alles in wenigen Sekunden. Ich fuhr weiter, und in der Küche mit den hellen Möbeln bereitete Mama das Essen zu, mein Vater würde gegen sieben Uhr heimkommen. Sie stellte Zucchini mit Käse in den Ofen, und ich beendete an dem Resopaltisch zu den Regionalnachrichten meine Hausaufgaben. Mein Bruder parkte sein Mofa hinten im Garten, im Hereinkommen erkundigte er sich, was es zum Abendessen gebe, küsste Mama widerstrebend auf die Wangen, berichtete mir zufrieden, wie viele Tore er geschossen hatte, und ging
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