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Geh auf Magenta - Roman

Geh auf Magenta - Roman

Titel: Geh auf Magenta - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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neu formen, es knarrt und ist verstaubt, meine Mutter ruft mich in die Küche, Essenszeit, Kind, ziehe dir heute etwas Ordentliches an, die Sonne scheint und Vater kommt aus dem Krankenhaus heim. Und noch einmal die Geburt: Pressen!, und heraus komme ich neu, in ein Leben, wo alles heil und gesund ist, geputzt und ohne scharfe Ecken. Die Mutter streicht dir das Höschen glatt, und ein leichter Wind weht über den Rhein. Es ist Essenszeit, Mädchen, zieh dir heute etwas Nettes an, Vater ist gleich da und ist scharf auf dich.
    Ich verstecke mich im Sessel, krieche tief in ihn hinein. Eine neue Geburt, ein neuer Tod. Auf diesem Sitz wird jetzt gestorben, meine Damen und Herren. Das muss so sein, es muss ja immer weitergehen, ohne das Neue wird das Alte doch faul. Sehen Sie, hier findet er statt, der Tod der armen Frau, dieser Sitz ist ein Teil des Todes der armen Frau, das Tablett vor mir ist ein Teil des Todes der armen Frau, die Fenster, das Glas, der Vorhang, die Landschaft ist ein Teil des Todes der armen Frau, das Benutzen der Toilette ist während des Halts auf Bahnhöfen nicht gestattet, Don’t use lavatory during train stops at stations, das Sterben auf der Toilette ist während des Halts auf Bahnhöfen striktens verboten, bleiben Sie ruhig sitzen, Frau M. Ordnung: Ich bin die Frau im Zug. Sie haben mich sicher schon einmal gesehen, ich sitze immer in den Ecken, nippe an einem Getränk und starre in Ihr Nichts; Sie sind froh, dass es Ihnen nicht wie mir ergangen ist, ich bin Ihr schlechtes Zweites, Ihr Grauen. Sie denken, mein Gott, die arme Frau, und Sie brauchen mich. Sie müssen das sehen, was Sie niemals werden möchten. Damit Sie weiter an Ihr Dasein glauben können, an die Fahrt ins Büro, an Ihr abbezahltes Haus, an Ihre Ehe, den letzten Urlaub am Mittelmeer, an Ihre Kinder, Glück 1, Glück 2, an das Schöne, Sinnvolle Ihrer Existenz. Ich bin all das nicht, ich bin die üble Blaupause Ihres Glücks. Sie schauen weg, Sie sind froh, mir begegnet zu sein.
    Stopp. Die Sonne brennt auf den Rhein. Frühling. Dann die Loreley. Alles ist deutsch. Ich denke an Kanarien, gefangen im Netz und säuberlich auf Holzpflöcke gespießt. Alle sitzen hintereinander, blicken aus dem Fenster, so klein auf ihren Holzpflöcken. Die Sonne könnte alles zusammenschmelzen: Haut, Haare, Zähne, Brillen und leichtes Baumwollgewebe. Übrig bleibt ein Klumpen Mensch, verdichtet auf einen oder zwei Kubik. Der neue Mensch, rein stofflich, funktionslos und liebenswert und kugelrund. Diese Kugel rollt durch den Zug, stößt bei jedem Stopp an die Waggontüren, sie ist fett und könnte platzen. Wir passieren Mainz, Massai-Land. Die Nativen stehen am Rand der Schienen und schauen verwundert auf dieses stählerne Wildschwein, das in ihre Träume fährt. Ich steige aus, und es ist Afrika. Am Horizont raucht ein Vulkan, ich kämpfe mich durch gefährliche Regenwälder bis an seinen Fuß und fange an zu steigen. Das Gestein bricht unter meinen Füßen weg, und heißer Qualm dringt aus Öffnungen im Boden. Die Träger haben Angst vor Dämonen und Berggeistern, ich steige unbeirrt weiter. Der Qualm wird unerträglich und brennt in meiner Lunge. Längst hat mich jeder verlassen, aber ich gehe entschlossen weiter, breche schließlich ganz in die Lava ein. Atomar zerstäubt schaue ich auf die Wunder eines nie gesehenen Mikrokosmos, zähle diese kleinen Bällchen, die sich tanzend um mich balgen, ich schlage auf sie ein, grüne, gelbe, himmelblaue, ich laufe und laufe, immer weiter in der Farbe, jetzt ein Mauve, ein kräftiges Purpur, schon strahlt alles in Magenta. Ich tanze, gehe darauf, jage dann durch den Vulkan, schieße in die Luft und falle als nasser Tropfen auf den Kopf eines Pavians, der mich unwirsch wegwischt. Ein glatter Sonnenstrahl brennt auf Weinberge links und rechts, sie brennen in den Himmel, ich lache in mich hinein, ich bin mir sicher, ich werde alles vergessen können, das blutende Höschen, lieber Paps, der Zug fährt mich gesund.
    Ich fahre über meine Haut, sie wirft kleine Bläschen der Angst, tausendfach übersäen sie den Körper, lassen sich von meinen Fingernägeln zerreißen, bis der blanke Knochen sichtbar wird. Ganz ruhig nun schält sich eine neue Haut darum, schmeichelt mit den Formen und spannt alles fest und sicher ein. Ich sitze kerzengerade, die Drähte sind straff gespannt, alles ist an seinem Platz, schließlich habe ich ja Ordnung gemacht. Meinen Frieden, mit euch, Papa, Mama, Dreckschweine, die ihr seid,

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