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Geh auf Magenta - Roman

Geh auf Magenta - Roman

Titel: Geh auf Magenta - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Satz, der –. In der Sekunde fiel ihm Kirsten und seine Verabredung mit ihr ein; die Uhr zeigte an, dass sie bereits eine Stunde überfällig war. Schnell griff er wieder zum Telefon und drückte ihre Nummer, sie antwortete nicht, und er wunderte sich, Kirsten war eigentlich immer pünktlich, ausnahmslos.
    Die Kaffeemaschine gab scheppernde Geräusche von sich, er goss sich eine Tasse ein. Das war er wohl: sein erster Abend als Single.

3
    Sie hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, warum sie sich im Netz Schwester nannte, vielleicht, weil es einfach eine Bezeichnung war, unter der man alles und jedes verstehen konnte. Einen anderen Vornamen als Synonym zu verwenden, empfand sie als peinlich, also blieb sie dabei. In ihrem Zimmer gab es kaum mehr als nur das Allernötigste zum Leben: eine Matratze mit einem Bettlaken auf dem Boden, ein bedrohlich schräg stehender Kleiderschrank vom Sperrmüll, ihr Schreibtisch, darauf das stets geöffnete Notebook nebst Wasserkocher an einer Steckdose, an der Wand lehnte ein kleines Bild, das Motiv erinnerte an einen Comic. Wenn überhaupt, verließ sie dieses Zimmer nur, um in der Dönerbude im Erdgeschoss des Hauses eine Kleinigkeit zu essen, aber auch das war ihr ein Gräuel: der begierige Blick des Verkäufers, wenn er ihr die Falafel durch das Fenster reichte, der Straßenlärm, das Grölen der Halbstarken, die ihr wie üblich schmutzige Wörter zuriefen; sie war nach wenigen Minuten wieder im Treppenhaus und stieg die unzähligen Stufen zu ihrem Zimmer im sechsten Stock hoch. Dann die Zufriedenheit, all dem entronnen und wieder in Sicherheit zu sein. Sie wohnte jetzt seit einem halben Jahr hier, ihr Tagesablauf hatte sich seit dem Einzug kaum verändert, bestand er im Wesentlichen doch nur aus zwei Tätigkeiten: Schreiben und Sichten von Videos. In diesem Moment überflog sie noch einmal das Geschriebene und korrigierte hier und da einige Kommata:
    Ich fahre mich gesund, der goldene Wein an meiner Seite ist das Wasser im blauen Band. Ich mache mir ein weites Land aus feinem Gedankenstaub, forme es mit leichten Händen, hauche einen Ton hinein und sehe, wie es aufs Neue zerstäubt, aufs Neue gerinnt und blutige Fäden spinnt; mein Land der Menschen aus Gold, mein Wunderland, in dem alles ist, was einmal war und da ist, wenn es morgen will, darüber mache ich mir ein Meer aus Glas, scharf geschnitten mit den kurzen Scherben meiner Tage; sie fallen, nur das Bodenlose scheint ihnen tief genug, ich fahre mich gesund, mit jedem Schluck heile ich das Stück Alltag, verschreibe mir das gründliche Vergessen aller Dinge.
    Eine schwarze Tafel, viele Zeichen. Da ist es, ein Ziel, endlich ein Ziel, real und greifbar, daran gibt es nichts zu rütteln. Eine Absicht, eine Tat, so einfach ist das.
    Ich zerstöre ihn.
    Wenn da nicht das Fragen wäre, wie ich dieser Tat entlaufen kann, nachts, im Hospital, das Herumalbern im Krankenbett, das Armaufstechen am frühen Morgen. Nur so zum Spaß, weil keiner hinguckt. Das Handblut dann, wie es in einer Zeitlupe auf dem Boden aufschlägt, große Tropfen bildet, hochschießt, um dann am Tischbein wieder herabzulaufen. Eine Lache auf dem Boden, in der es sich spiegeln lässt, mit der Tapete, den Leuchtern und den Gesichtern hinter den karierten Fenstern. Da ist ein wohliger Genuss von Existenz, schließlich tut es ja weh, und überhaupt: Ich will etwas spüren – nur irgendetwas spüren.
    30 Grad überall. Ich schließe meinen Mantel, es fröstelt mich. Eine lange Halle öffnet sich, geradeaus ist es einfach, nur den Schildern folgen – und dann bläst ein Wind für mich, die Tore öffnen sich, weit und üppig, die Gleise sind geschmiert und scharf, das Wildschwein kommt und donnert durch mich hindurch. Rein da, mitfahren in diesem schwarzen Bauch mit Uniformen. Jeder hier hat ein Ziel, mein Ziel, alle wollen da hin, wir sind eins in diesem fetten schwarzen Feuerbauch.
    Strammziehen. Ordnung machen. Ich gebäre mich selbst, stehend. Die Beine sind gespreizt, eine Konzentration, ein tiefer Ruck, und mein Kindskörper bekommt Wehen. Pressen!, rufe ich. Das Pressen hat Erfolg, die Scham färbt sich rot, ich komme aus meinem Leib, jung und unverbraucht, unschuldig. Ich sehe eine neue Welt. Ich definiere Farben, zuerst als Rot, dann als Blau, dann Gelb, dann Grün, immer wieder Grün, die ganze Fülle wartet. Ich mache Formen, es entstehen Tische, Tassen, Stühle, Töne, Menschen, alles versehe ich mit Leben. Auch mein altes Holzpferd darf ich jetzt

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