Geh auf Magenta - Roman
Noch am Leben oder endlich erlöst? – Schwester.
Die Antwort kam schnell: Noch am Leben. An sich ein bemitleidenswerter Zustand, das ständige Leiden unter der Gravitation und verklebten Mitmenschen, das Leben selbst gibt keine Antwort auf ein Wie. Es ist besser, die Machete zu nehmen und sich einen Weg durch die Blutbahn zu schlagen. B.
Sie sah lange auf den Satz. Sie würde ihm später antworten.
Ihr Blick fiel auf den Briefumschlag, der ungeöffnet vor ihr lag, von ihrer Mutter, die irgendwie ihre Adresse herausgefunden haben musste. Sie hasste es, ihren eigenen Namen in solch korrekten Buchstaben auf dem Umschlag zu sehen – Mila.
*
In Bastiens Leben hatte Tag 5 als Single begonnen. Er hatte das Atelier nicht wirklich verlassen, abgesehen von einigen kurzen Gängen zur Dönerbude in der Parallelstraße. Um auch das nicht täglich machen zu müssen, kaufte er zweimal auf Vorrat ein, dementsprechend durchzog eine deutliche Note an Fett und türkischen Gewürzen das Atelier, was ihm, wie fast alles derzeit, aber vollkommen egal war. Aus Bastiens Sicht mutierten die Wände des Ateliers nun langsam zum Innern einer Grabkammer, in der er allein und ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Vor allen Dingen setzte ihm die Einsicht zu, dass die Liste seiner Fehler eine lange war. Mels Reaktion mochte hart sein, aber im tiefsten Innern wusste er auch, dass sie mit einigem recht hatte, besonders, was seine Rolle als Familienvater anbelangte. Es war schon durchschaubar gewesen, die eigene Faulheit hinter einer (ohnehin nur kaum vorhandenen) Arbeitsdisziplin zu verschanzen, besonders, da Mel an diesem Punkt nichts vorzumachen war. Und die Darstellung, dass er sich schließlich um den Unterhalt der Familie kümmern müsse, konnte ebenso wenig überzeugen; hätte Mel mehr Zeit für ihre Arbeit gehabt, so wäre auch von ihr ein Beitrag möglich gewesen. Ganz abgesehen davon, dass seine bisherige Auffassung einer Beziehung wohl schlicht eine spießige war, die nicht so recht zu einem Künstler passen mochte. Das schlechte Gewissen paarte sich nun zunehmend mit ausgewachsenen Minderwertigkeitsgefühlen, und das manchmal so intensiv, dass er vor Erschöpfung den ganzen Nachmittag auf der Matratze verbrachte.
So auch an diesem Tag, als Mel ihn anrief. Als er ihre Nummer auf dem Display seines Handys sah, fing seine Hand unwillkürlich zu zittern an und ein Glücksgefühl durchfuhr ihn – das mochte es endlich sein, das Ende seines Leidens. Er drückte die Taste und sprach mit fester Stimme: »Ja, Mel?«
Sie sprach nicht sofort, er hörte, wie sie kurz atmete, bevor sie ihn fragte, wie es ihm ginge, was er mit gut natürlich beantwortete. Und was er denn jetzt machen würde, sie hätte gehört, dass er in das Atelier gezogen sei, und ob das nicht zu kalt sei mit dieser lausigen Heizung dort. Er fragte nach den Kindern, und es folgte eine Berichterstattung der letzten Tage, Debbie habe einen Flirt, vielleicht sei der Junge schon so etwas wie ihr erster Freund, aber jetzt wären beide bei ihrem Vater in Frankfurt.
»Warum?«, fragte Bastien.
Er wunderte sich, wusste er doch, dass Mel das selten zuließ, das Verhältnis zu ihrem Ex war nicht besonders gut, eigentlich sogar katastrophal schlecht. Ihre Stimme zitterte nun ein wenig. »Es ist – ich wollte dir noch etwas sagen.«
»Ja?«
»Sie sind dort, weil –«
Sie stoppte, eine seltsame Ahnung überfiel ihn, und er spürte eine ansteigende Temperatur in seinem Körper. Etwas zu laut fragte er, was denn los sei, woraufhin ihre Stimme wieder fester klang: »Ich wollte dir nur sagen, dass ich einen neuen Freund habe. Du solltest das wissen, ich meine, bevor du es von anderen hörst, ich dachte, das wäre fair.«
Er sog langsam die Luft ein und atmete wieder aus. Vor seinen Augen, so schien es ihm, entstand eine Art Verdichtung.
Sie hatte die Größe eines Golfballes.
Sie sprang im Raum hin und her.
Sie näherte sich bedrohlich seiner Stirn.
Sie drang dort ein.
Er wischte sich mit der Hand über die Eintrittsstelle und spürte den Schweiß auf der Haut.
»Bastien?«, fragte Mel leise.
Ein zweites Wischen, er atmete wieder ein, der Golfball wanderte nun in seinem Kopf herum, setzte sich am oberen Nackenwirbel fest.
»Bastien?«
»Wer?«, fragte er leise.
Sie schwieg zuerst, er hörte sie lange atmen, bevor sie ebenso leise »Thomas« sagte.
Seine Hand zitterte jetzt so stark, dass er nur noch mit Mühe das Handy in der Hand halten konnte, er legte es
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