Geh nicht einsam in die Nacht
denn der Chauffeur und seine Frau seien nur einen Monat vorher nach Tallinge gezogen, und außerdem sei der Mörder in einem Pornoschuppen in der Innenstadt von Helsingfors gefasst worden: Da hatte die Polizei ihn schon eine ganze Woche gejagt.
Doch was immer in den Hochhäusern im Verlauf des Sommers geschehen sein mochte, es wurde doch immer Herbst. Auf einmal senkte sich die Dunkelheit herab, weitere Wochen vergingen, und die Bäume am Rand der Fahrradwege leuchteten gelb und rot, und schon bald kam der erste Morgen mit gefrorenen Pfützen und einer dünnen Reifschicht, die den Rasen knistern ließ, wenn man ihn überquerte. Ich mag den Herbst, ich glaube, es liegt daran, dass ich mir damals als Baby in diesen Monaten ein Bild von der Welt machte. Eva Mansnerus vertritt dagegen eine andere Theorie, sie meint, es liege daran, dass ich im Dunkeln verharren und beobachten, aber nicht gesehen werden wolle.
Wir wohnten am äußeren Ende der Eigenheimsiedlung, in einer zum Wald hin gelegenen Reihenhauswohnung. Wir gehörten zu den besseren Kreisen Tallinges, zwar knapp, aber eindeutig: Henrys Vertriebsleitertitel war dort von einigem Gewicht, und auch Leeni hatte einen guten Job, denn als wir nach Tallinge zogen, wurde sie Englischlehrerin in einer finnischsprachigen Schule in Mattisbacka, zwei Haltestellen stadteinwärts.
Wir zogen aus mehreren Gründen nach Tallinge, wegen Leenis neuem Job, weil Henry es sich endlich leisten konnte, ein Auto zu kaufen, aber vor allem, weil meine Eltern in armen Familien in der Innenstadt aufgewachsen waren. Sie hatten beengt gelebt, in verwohnten und unmodernen Wohnungen, und wollten, dass ich in einer besseren Umgebung aufwuchs als der Steinwüste, wie sie die Stadt nannten. Ich hätte gerne mit der Steinwüste vorliebgenommen, denn ich lebte mich in Tallinge nie wirklich ein, fand dort nie meinen Platz im sozialen Leben. Mit den Kameraden in meiner eigenen, schwedischsprachigen Schule war es besonders schwierig: Dank eines Jungens namens Pete Everi ging auf Finnisch alles leichter. Da Leeni und Henry beruflich oft sehr beschäftigt und die Familien der beiden klein waren, entwickelte ich mich zu einem ziemlich einsamen Kind. Aber ich möchte daraus keine große Sache machen, ich wurde nicht gemobbt oder so. Ich blieb nur ein bisschen für mich und lief oft herum und fühlte mich wie ein Schauspieler in einem Film: Ich hatte das Gefühl, gar nicht richtig da zu sein, oder als gäbe es Tallinge in Wahrheit nicht. Es war keine dramatische und angsterfüllte Erfahrung, sondern eher so, als triebe man in etwas Grauem und Weichem und als fände man, dass alles unwirklich ist, ähnlich dem Gefühl, das man hat, wenn man in einem Flugzeug über der Wolkendecke sitzt und Lust bekommt zu springen, weil die Wolken so weich aussehen.
* * *
Im Juni 1974, zwei Monate vor meinem dreizehnten Geburtstag, verliebte ich mich in Eva Mansnerus. Das war keine gute Idee, denn Eva war drei Jahre älter als ich. Aber es war eine intensive und überwältigende Erfahrung. Seither sind fünfunddreißig Jahre vergangen, und manchmal glaube ich, dass mich dieser Tag niemals verlassen hat.
Es passierte in der Musikabteilung der Stadtteilbücherei Tallinge. Die Bücherei war damals gerade eingeweiht worden, es handelte sich um ein würfelförmiges Gebäude aus weißem Backstein, innen gab es weite Flächen, alles war offen und sauber. Die Bücherei war hochmodern: Musikabteilungen waren eher ungewöhnlich, es gab sie nur in Tölö und später dann in Tallinge und ein paar anderen Vororten. Die Abteilung lag nach Süden hin und war an jenem Vormittag Mitte Juni in Licht getaucht. Ich hörte The Dark Side Of The Moon und versuchte, mich zu entscheiden, ob ich mir die Platte zum Geburtstag wünschen sollte oder nicht: Ich hatte mich fast dagegen entschieden, denn ich mochte Time und Money , aber manche Titel waren ziemlich seltsam. Plötzlich stand Eva Mansnerus im Türrahmen, und ich vergaß Pink Floyd und alles andere. Ich hatte sie vorher schon gesehen, in der Schule, und sie hübsch gefunden. Unerreichbar hübsch, wie diese drei Jahre älteren Mädchen es immer waren. Nun aber schlug sie in mir ein und sollte für immer bleiben. Dabei war sie damals ganz schlicht gekleidet: nichts Besonderes, nur Tennisschuhe, eine dunkelrote Jeans (Röhre), ein Hemd mit Karomuster und eine verwaschene Jeansjacke. Ein Hemd mit Karomuster an einem Mädchen – das bedeutete in der Regel Streberin, stumpfes Haar, flache
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