Geh nicht einsam in die Nacht
Straßenbahnhaltestelle und nahm die Linie 3 in südliche Richtung. Ich stand in der lärmenden Innenstadt und fühlte mich verloren. Manchmal ging ich tatsächlich zu Henrys Büro, aber er saß oft in Besprechungen, und wenn er nicht in Besprechungen saß, hatte er die Ärmel hochgekrempelt und rauchte mit Ordnern und Akten vor sich auf dem Tisch eine Zigarette nach der anderen, und obwohl er versuchte, freundlich zu sein, sah ich doch, dass es ihm eigentlich nicht passte, wenn ich dorthin kam. Also trieb ich mich in Musikgeschäften und anderen Läden herum und nahm schließlich den Bus zurück oder wartete, bis Henry Feierabend machte. Dann fuhren wir in seinem Renault nach Hause, wobei er pausenlos rauchte und seine Country-and-Western-Kassetten hörte: Noch heute passiert es mir, dass ich Charley Pride last night I went to sleep in Detroit City in meinem Kopf singen höre, wenn ich mein Auto auf einem regennassen Mannerheimvägen durch Tölö lenke.
Es gab so vieles, was ich damals nicht wusste. Ich wusste, dass ich schlecht in Sport war, dass Blauschimmelkäse ekelhaft schmeckte, dass Idi Amin ein Diktator in Uganda war und auch in Finnland im Frühjahr keine Präsidentschaftswahl stattgefunden hatte, obwohl eigentlich eine vorgesehen gewesen war. Stattdessen wählten wir den alten wieder, indem wir unsere Gesetze änderten, und ich wusste, dass ich zu oft onanierte und aufhören musste, den alten Song Mamy Blue zu mögen, denn sowohl Pete Everi als auch meine Klassenkameraden fanden ihn total bescheuert. Darüber hinaus wusste ich, dass Eva Mansnerus das schönste Wesen war, das jemals existiert hatte. Dagegen wusste ich nicht, warum Evas Vater Göran erst kürzlich eine neue Stelle angetreten hatte und Familie Mansnerus aus dem südlichen Helsingfors bis nach Tallinge hinaus gezogen war. Ich wusste nicht, dass Eva eine dreizehn Jahre ältere Schwester hatte, die nach einer Reihe chaotischer Jahre darum kämpfte, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Und ich wusste nicht, warum mein Vater so schweigsam war, wenn wir aus der Stadt nach Tallinge fuhren. Aber wie hätte ich auch etwas von diesen Dingen ahnen können? Ich begriff ja nicht einmal, dass Eva längst kapiert hatte, warum ich an fünf Nachmittagen in der Woche die Buslinie 49 nahm.
* * *
Pete Everi hatte fast sein ganzes Leben in Tallinge gewohnt. Er, seine Eltern und seine Brüder und Schwestern waren bereits im Herbst dreiundsechzig eingezogen: Stationsvägen 12 war das älteste Hochhaus in Tallinge, es gab lediglich ein paar freistehende Häuser und Reihenhäuser, die noch älter waren.
Stationsvägen 12 war zudem das einzige der Hochhäuser, in dem es Vier- und sogar Fünfzimmerwohnungen gab, die für Familien wie Petes groß genug waren. Familie Everi wohnte in einer Vierzimmerwohnung, aber es war trotzdem eng, denn Pete hatte eine große Schwester, zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester namens Susanna, die Suski genannt wurde. Die große Schwester und der älteste Bruder waren fast erwachsen, als Pete und ich Freunde wurden, und zogen kurze Zeit später aus, so dass ich nie dazu kam, sie näher kennenzulernen. Suski und den jüngeren der älteren Brüder, Markku alias Make, sollte ich dagegen ziemlich gut kennenlernen.
Veikko Everi, Petes Vater, arbeitete bei der Post und war Witwer. Als die Familie nach Tallinge zog, war Pete vier, Suski war ein gutes Jahr alt, und man führte ein arbeitsames, aber gutes Leben. Zwei Jahre später wurde Petes Mutter Maiju auf dem Weg zu einem Kaffeekränzchen bei einer Freundin am anderen Ende der Stadt von einem betrunkenen Motorradfahrer überfahren. Maiju starb an ihren Verletzungen, und Vater Everi hatte nicht wieder geheiratet. Petes Großmutter Salme, eine alte Dame mit Waden so dick wie Fichtenstümpfe, half oft im Haushalt aus. Sie wohnte häufig bei den Everis: Wenn sie sich ankündigte, mussten sich die drei Brüder ein Zimmer teilen, wodurch Pete Zugang zu den Plattensammlungen der beiden älteren bekam.
Es gab noch eine Frau bei den Everis. Sie hieß Orvokki, wohnte im Nachbarhaus Stationsvägen 10 und übernachtete gelegentlich in Vater Veikkos Zimmer, allerdings nur, wenn Großmutter Salme nicht bei ihnen war. Orvokkis Status in der Familie blieb unklar, und ich lernte schnell, dass Pete nicht über sie sprechen wollte. Pete behandelte Orvokki mit untadeligem, aber wortkargem Respekt, und die älteren Kinder teilten seine reservierte Einstellung: Nur das Nesthäkchen Suski sah
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