Geh nicht einsam in die Nacht
Brüste, dicke Brille. Eva Mansnerus hätte dagegen mit einem Armeezelt bekleidet gewesen sein können, sie hätte trotzdem ausgesehen wie ein Traum. Ich glotzte sie verzaubert an und sah, dass ihre blonden Haare nicht mehr glatt fielen, sie musste eine Brennschere benutzt oder zu Mini Vogue oder etwas anderem gegriffen haben. Ich versuchte, ihr zuzunicken, aber sie nahm mich nicht wahr, ich war nur ein kleiner Junge, der Platten hörte.
Damals nahm man von Tallinge aus noch die Buslinie 49 in die Stadt. Die S-Bahn kam erst zwei Jahre später, vorher gab es nur die Fernzüge, von denen die meisten mit hundert Kilometern in der Stunde am Bahnhof von Tallinge vorbeirauschten. Familie Mansnerus war ein Jahr nach uns nach Tallinge gekommen und wohnte in einem freistehenden Einfamilienhaus einige Häuserblocks von unserem Reihenhaus entfernt. Evas alte Freunde lebten jedoch noch im Süden von Helsingfors, wo sie bis dahin gewohnt hatte, und ich fand heraus, dass sie jeden Nachmittag den 49er in die Innenstadt nahm und ihren Weg anschließend zu Fuß oder mit der Straßenbahn nach Ulrikasborg und in den Brunnspark fortsetzte. Im nächsten Herbst folgte ich ihrem Beispiel: Ich wollte im Bus sitzen und sie heimlich anschauen. Ich hatte im Grunde keine Freunde, aber wenn mich jemand fragte, sagte ich, ich wolle Leeni in der Schule in Mattisbacka besuchen oder mich mit Henry in seinem Büro treffen, das in der Kajsaniemigatan im Stadtzentrum lag.
Mein Leben als Teenager-Stalker. Eva und ich nahmen die Linie 49 von der Haltestelle an der Ecke Stationsvägen und Suviovägen. Eva beachtete mich nicht. Am Nachmittag, wenn der Schultag vorbei war, standen immer mindestens zehn Menschen an der Haltestelle, und Eva unterhielt sich häufig mit einer ihrer Klassenkameradinnen. Es war ein regnerischer Herbst, ich erinnere mich noch an die tiefen Pfützen auf dem Suviovägen, der damals noch nicht asphaltiert war. Sobald wir eingestiegen waren, fuhr der Bus in südöstliche Richtung und schlängelte sich durch eine anonyme Vorstadt nach der anderen, erreichte nach einer knappen halben Stunde Brunakärr und fuhr weiter ins Zentrum. Ich muss während dieses Jahres gesehen haben, wie völlig neue Stadtteile entstanden – Helsingfors dehnte sich schnell in nordwestliche Richtung aus –, und in der Innenstadt muss ich beobachtet haben, wie markante Landmarken abgerissen und durch Neubauten ersetzt wurden. Aber ich erinnere mich an nichts. In meiner Erinnerung gibt es nur Eva, ihr Bild ist dafür jedoch wie eingemeißelt. Ich starrte sie unablässig an, es sei denn, sie schaute zufällig in meine Richtung, so dass ich schnell den Kopf drehen und aus dem Fenster stieren musste. Doch selbst in diesen Momenten sah ich nicht, was es draußen gab, ihr Bild blieb, und noch heute sehe ich vor mir, wie die blonden Haare der sechzehnjährigen Eva Mansnerus auf ihre Schultern fallen und sich über die Schulterblätter und den Rücken hinabringeln, ich sehe, wie schmal ihre Schultern werden, wenn sie die eng geschnittene, dunkelgrüne Lederjacke anhat, die sie im Herbst 1974 und im Frühjahr 1975 trägt, sie fährt leicht über den Leberfleck schräg unter dem linken Auge, sie hat ein Bein über das andere geschlagen, und der stiefelbekleidete rechte Fuß wippt, sie schiebt gedankenverloren ihre Unterlippe vor, und ihre Hand bewegt sich federleicht, wenn sie in den Fantasyromanen und Gedichtbänden blättert, Kahlil Gibran und Tolkien und anderes, die sie immer las.
Eva saß im Bus am liebsten vorn, ich selbst platzierte mich so weit hinten, wie ich konnte, ohne sie aus den Augen zu verlieren. In jenem ersten Herbst und Winter sprachen wir kein Wort miteinander, wechselten nicht einmal Blicke – für sie blieb ich noch lange ein Kind. Hätte sie mich jedoch gefragt, hätte ich ihr meine Anwesenheit erklären können, meine Vorwände hatte ich im Voraus geübt: Ich wollte zum MicMac in der Berggatan oder zum Beaver’s in der Sjötullsgatan, um eine Jeans zu kaufen, oder ich wollte zu Henrys Büro, um bei ihm um Geld zu betteln, oder zu Musik-Fazer in der Alexandersgatan, um in den Platten zu stöbern und E-Gitarren zu bewundern. Damals bildete ich mir ein, dass Eva meine Lügen geschluckt hätte, wenn ich gezwungen gewesen wäre, sie ihr aufzutischen: Später, als wir Freunde geworden waren, erklärte sie, sie habe immer gewusst, warum ich in dem Bus gesessen habe.
Wenn der Bus den Glaspalast erreichte und alle ausstiegen, begab Eva sich zur
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