Geh nicht einsam in die Nacht
wollte sie nicht beunruhigen. Ihr und der verwirrten und traurigen Lydia Wahl teilte er lediglich mit, dass Ariel und der gefürchtete Hullu-Hurme spurlos verschwunden waren und keiner in Stockholm irgendetwas wusste.
Im März 1970 wurde Jouni über die Liste der Sozialdemokraten ins Finnische Parlament gewählt. Er erzielte ein gutes, aber kein glänzendes Ergebnis, er war der letzte Sozialdemokrat in Helsingfors, der über die Liste ins Parlament einzog.
Im selben Sommer stand Jounis jüngerer Bruder Oskari als frisch gebackener Polizist in der Polizeikette, die die Demonstranten fernhielt, als der iranische Schah Reza Pahlavi Finnland besuchte.
Als Elina Manner den Aufzug zum Hof und den Fahrradständern nahm und zu ihrer Arbeit in der Wäscherei fuhr, war sie so stolz auf ihre Jungen, dass sie das Gefühl hatte, vor Glück fast zu platzen.
Adriana Mansnerus wurde immer wieder in der offenen Abteilung der Klinik aufgenommen, erst 1973 bekam sie eine Stelle in einem Blumengeschäft und hielt sich ein paar Jahre über Wasser.
Und Ariel Wahl und Hullu-Hurme, die wurden nach einiger Zeit für tot erklärt.
E IN ANDERER A NFANG
Tallinge, 1972–1980
ICH WURDE EIN GUTES HALBES JAHR nach jener schneefreien Winternacht geboren, in der Elina Manner an ihrem Fenster saß und in der Hoffnung auf die Castrénsgatan hinausspähte, ihren Sohn Jouni zu erblicken.
Es war fünf Uhr an einem Nachmittag im August und es nieselte, und als ich geboren wurde, öffnete zur selben Zeit die schwedische Sängerin Zarah Leander den Mund und ließ ihre tiefe Altstimme über der Stadt ertönen. Sie trat im Vergnügungspark Borgbacken auf, der zwei Kilometer von der Entbindungsstation entfernt liegt, bei günstigen Windverhältnissen hätten meine Mutter Leeni und ich also Bruchstücke von Zarah Leanders Gesang hören können. Die große Diva war der Liebling der Nationalsozialisten gewesen, und manchmal ist mir durch den Kopf gegangen, dass damals, als Die Leander in Borgbacken sang und ich Luft holte und meinen ersten Schrei ausstieß, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerade einmal sechzehn Jahre vergangen waren.
Während Leeni mich zur Welt brachte, veröffentlichte die Zeitung Prawda eine Erklärung des sowjetischen Generalsekretärs Nikita Chruschtschow. Chruschtschow sprach darin über die Entwicklung einer rekordgroßen Wasserstoffbombe, die eine Sprengkraft von 100 Megatonnen haben würde und den Projektnamen »Monster« trug. Prawda bedeutet Wahrheit, und schon kurze Zeit später sollte Chruschtschow vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen stehen und mit seinem Schuh auf das Rednerpult pochen: Noch so ein verzweifelter Alchemist des 20. Jahrhunderts, der versuchte, seinen doktrinären Wahnsinn in ebensolche Prawda zu verwandeln. Die amerikanischen Atomtechniker waren jedoch keinen Deut besser, denn sie ließen folgende Erklärung veröffentlichen: »Wir haben so viele 20-Megatonnenbomben, dass wir alle denkbaren Ziele zerstören können. Eine 10-Megatonnenbombe verfügt über die gleiche Zerstörungskraft wie 500 Hiroshima-Bomben. Man erzielt mit fünf bis zehn Bomben à 10-20 Millionen Tonnen größere Zerstörungen als mit einer einzigen Bombe von 100 Millionen Tonnen.«
Eines Nachts, als Leeni mich bereits stillte, wurde die Ruhe am Brandenburger Tor in Berlin durch das Knattern von Presslufthämmern durchbrochen. Mächtige Hämmer attackierten das Straßenpflaster, und hungrige Schweißflammen fraßen sich durch Straßenbahnschienen. Ostdeutsche Ingenieure ließen eine Mauer durch Berlin erbauen, während ihre Kameraden Posten bezogen und die Gewehrmündungen ostwärts richteten, auf die Menschen, die sie angeblich doch schützten.
Ich, der werdende Frank Kaspar Taavi Loman, ahnte von all dem nichts. Ich saugte Nahrung ein, schlief und schiss und wusste glücklicherweise nicht, dass ich Gefahr lief, mich zu wirklich allem Möglichen zu entwickeln: Grenzposten, Atomtechniker, Parteichef, alle Türen standen offen.
Laut Familienchronik mieteten mein Vater, der angehende Vertriebsleiter Henry Loman, und Leeni in jenem Sommer ein kleines Gesindehaus in Mattby, und es existieren einige vergilbte Farbfotos, die andeuten, dass dies der Wahrheit entspricht.
Auf den meisten Bildern hat Leeni einen riesigen Bauch, auf dem letzten bin dagegen auch ich zu sehen. Wir sitzen auf einer grünen Hollywoodschaukel größeren Modells. Henry hält mich im Arm, schaut direkt in die Kamera und wirkt ratlos. Leeni sitzt neben
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