Geh nicht einsam in die Nacht
vielleicht ändert sich das eines Tages wieder.«
Er schielte zu Adriana hinüber, warf einen unsicheren Blick auf Jouni, der ein wenig abseits saß und in Gedanken versunken zu sein schien, und fragte sie: »Addi, in deiner F-Familie … hat da jemals irgendwer über meinen Vater geredet … über Lennart?«
Adriana antwortete lange nicht. Ariel beobachtete sie und wartete. Schließlich sagte sie:
»Ein einziges Mal. Jedenfalls erinnere ich mich nur an das eine Mal. Heiligabend, als meine Großeltern mütterlicherseits bei uns waren. Sie unterhielten sich beim Essen über ihn. Aber ich erinnere mich nur vage.«
»Versuch’s!«, sagte Ariel.
»Nur, dass er aus dem Krieg nach Hause geschickt wurde, da war etwas mit seinem Fuß. Und dass er kein Geld hatte und Großvater ihm in seinem Haus eine Stelle als Hausmeister besorgt hatte.«
»Mehr nicht?«, hakte Ariel ungeduldig nach, als sie nicht weitersprach.
»Dass er bis zum Kriegsende und kurz danach als Hausmeister arbeitete.« Adriana schwieg, dann fügte sie widerwillig hinzu: »Danach wurden sie still, wie die Erwachsenen es gerne mal werden, wenn Kinder dabei sind. Du weißt schon, man kapiert sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
Während Ariel und Adriana sich unterhielten, hatte Jouni angefangen, leise Geh nicht einsam in die Nacht zu singen. Nun kam er zum Refrain, und Adriana rückte dicht an ihn heran und stimmte ein, als wollte sie Ariel verdeutlichen, dass sie nicht mehr sagen wollte. Auch Ariel stimmte ein, und sie sangen fast das ganze Lied, unsicher und nicht besonders sauber, aber doch so laut, dass die Menschen, die in ihrer Nähe saßen, sich umdrehten und sie neugierig anschauten. Als sie jedoch zum dritten Mal zum Refrain kamen und das abschließende Crescendo hätten aufbauen sollen, verstummte Adriana plötzlich, sie sang nicht, dass man nicht weiß, wessen Beute man wird. Stattdessen legte sie sich rücklings ins Gras und blickte in den blauen Himmel hinauf. Auch Ariel verstummte, genau wie Jouni, und kurz darauf lagen sie alle dicht nebeneinander auf dem Rücken im Gras.
»Bleibst du in Helsingfors, Ari?«, erkundigte sich Adriana nach langem Schweigen. »Möchtest du deine E-Gitarre zurückhaben?«
»Nee«, sagte Ariel nach kurzem Zögern. »Noch nicht.«
»Du bist ein Idiot, wenn du dahin zurückfährst«, sagte Jouni. »Ein verdammter Kamikaze-Idiot!«
»Ich muss zumindest meine Levin holen«, erwiderte Ariel. »Die ist v-verdammt noch mal das Einzige, was ich geerbt habe.« Er setzte sich auf, rupfte gedankenverloren Grashalme aus der Erde und sagte: »Ich weiß nicht recht. Man verlässt Dinge, weil man sie nicht haben will. Oder weil sie einen nicht haben wollen. Oder weil man sie lächerlich und klein findet. Aber dann sind sie vielleicht doch g-größer, als man geglaubt hat.«
Jouni und Adriana hatten sich ebenfalls aufgesetzt. Erstaunt schauten sie zunächst verstohlen Ariel und dann einander an, wussten aber nicht, was sie sagen sollten.
Jouni sah auf seine Armbanduhr und sagte: »Es wird spät. Ich denke, wir sollten Addi zurückbringen.«
Adriana legte den Kopf auf Jounis Schulter und sagte leise: »Noch nicht. Nicht sofort.«
So schnell, wie sie sich auf ihn gestützt hatte, richtete sie sich wieder auf, Jouni konnte nicht reagieren, nicht den Arm um sie legen, nichts. Adriana sagte: »Im Voraus sieht man nicht, wie dunkel die Nacht ist. Aber wenn man in ihr ist, sieht man nichts anderes. Gar nichts. Nur Dunkelheit.« Sie stand auf und ergänzte leise: »Danke für diesen Tag.«
* * *
Ariel fuhr nach Stockholm zurück, obwohl Jouni bis zuletzt versuchte, ihn zum Bleiben zu bewegen.
Drei Monate später verschwand er spurlos. Er war nicht der Einzige. Nur zehn Tage vorher war Raimo Hurme ebenso spurlos verschwunden.
Die schwedischen Tageszeitungen veröffentlichten kurze Notizen über die zwei verschwundenen Finnen, die Regenbogenpresse schlachtete die Sache darüber hinaus in Reportagen über die finnische Kriminalität in Schweden aus.
Im Dezember fuhr Jouni nach Stockholm, obwohl er dafür eigentlich gar keine Zeit hatte: Er würde bei den Parlamentswahlen kandidieren und engagierte sich bereits intensiv im Wahlkampf. Er trieb Leute auf, stellte Fragen, schnüffelte, bedrängte und klagte an. Daraufhin wurde er massiv bedroht, wie er wenigen Freunden nach seiner Rückkehr gestand. Ansonsten hatte er nichts Neues mitzuteilen. Als er mit Elina über Ariel sprach, erwähnte er die Drohungen nicht, er
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