Geh nicht einsam in die Nacht
her, aber er schien einen sechsten Sinn dafür zu besitzen, wann seine Umgebung allmählich die Geduld mit ihm verlor: Gewöhnlich hörte er im richtigen Moment auf, Streit zu suchen, und begann stattdessen, guten Willen zu zeigen.
»Soll ich den Riss da flicken?«, fragte Elina mit freundlicher Stimme.
»Welchen Riss?«, erkundigte sich Jouni.
»Den in deinem linken Hosenbein.«
Jouni zuckte mit den Schultern. »Wenn du willst.«
»Leg die Hose über den Stuhl, wenn du ins Bett gehst, dann flicke ich sie dir morgen.«
Jouni nickte, sagte aber nichts mehr. Elina blieb stehen und beobachtete ihn schräg von der Seite. Zusammengebissene Kiefer, Augen, die in die Nacht schauten. Es gab etwas Hartes in diesem Blick, etwas Schmales, Blindes und Unnachgiebiges. Obwohl er noch keine fünfzehn ist, hat er die Augen eines Soldaten, dachte Elina. Sie sind alle kleine Krieger, sie sind ihre Väter.
»Ich gehe jetzt ins Bett«, sagte sie und zog sich hinter die Draperie zurück. Jouni entgegnete nichts.
* * *
Jouni und Ariel waren kurz zuvor, an einem regnerischen Sonntag im Oktober, Freunde geworden. Zwei Monate waren seit ihrer gewalttätigen Begegnung auf der Brache am Tavastvägen vergangen. Während der Schultage in der Aleksis-Kivi-Schule, einem riesigen und abweisenden Gebäudekomplex aus den dreißiger Jahren, der auf einem Hügel oberhalb des Braheplans stand, hatten sie keinerlei Kontakt gehabt, weder in den Schulfluren noch auf dem Sportplatz, wo Schüler unterschiedlichen Alters nach Schulschluss Sport trieben oder bloß herumlungerten. Wenn sich Jounis und Ariels Wege kreuzten, senkte der beschämte Ariel rasch den Blick oder sah weg, während Jouni so tat, als wäre Ariel Luft: So pflegte er besiegte Feinde zu behandeln. Doch nun war es Sonntagnachmittag, der dichte Regen des Morgens war zu einem leichten Nieselregen geschrumpft, und Jouni Manner schlenderte mit so viel Fett in seinen sorgfältig gekämmten Haaren die Straße hinab, dass jeder Regentropfen davon abperlte. Richtung Porthansgatan abwärts gehend, gleich hinter den neuen neunstöckigen Häusern, meinte er Musik zu hören: Jemand spielte hart und rhythmisch und bei offenem Fenster Gitarre, und es klang ziemlich gut. Im Erdgeschoss von Hausnummer 11 stand ein Fenster offen, von dort schien die Musik zu kommen. Da Jouni sich als Herrscher über diese Häuserblocks betrachtete, hievte er sich umstandslos auf das Fensterblech hoch und hing auf seine Ellbogen gestützt in der Fensteröffnung. Als er sich an das Zwielicht im Zimmer gewöhnt hatte, konnte er den Gitarristen identifizieren: Es war Ariel Wahl, der ältere Junge, den er vermöbelt hatte und der wie ein verängstigtes Gespenst durch die Schule schlich.
Ariel spielte nicht mehr, er war von dem abgewetzten grünen Stuhl aufgesprungen, auf dem er gesessen hatte, und stand an die Wand gepresst, seine Augen flackerten.
»Ich hab dich schrammeln gehört«, sagte Jouni, als gäbe ihm dies das unbestreitbare Recht, den Platz einzunehmen, den er nun innehatte.
»W-was willst du?«, fragte Ariel, und seine Stimme war dünn und zittrig. »Hier g-gibt’s keine K-K-Knete, i-i-ich …«
»Mach dich nicht lächerlich. Ich wollte nur hören, wer hier schrammelt«, unterbrach Jouni ihn.
»Das war ich«, erwiderte Ariel, und es gelang ihm, seine Stimme tonlos zu machen. »K-kannst du jetzt bitte abhauen?«
»Du wohnst hier bestimmt nicht allein, oder?«, fragte Jouni.
»W-was denkst du denn? Ich wohne hier mit meiner Mutter.« Er versuchte, Jounis Blick zu begegnen, traute sich aber nicht, sondern schaute zu Boden. Dann blickte er wieder auf. »Sie ist p-putzen, aber wenn du da im Fenster hängst, wenn sie k-k-kommt, setzt es Schläge, sie ist eine ganz H-Harte, sie ist echt taff.«
»Das bin ich auch«, entgegnete Jouni fast heiter.
»Ein taffer Typ, der sich mit Müttern prügelt?«
»Nee, ich schlage mich nicht mit Müttern«, erklärte Jouni mit Nachdruck. »Aber jetzt bitte mich schon herein, dann brauche ich hier auch nicht so herumzuhängen.«
»Ich d-denke gar nicht daran, dich hereinzubitten«, erwiderte Ariel, »ich bin doch kein K-K-Kamikaze.«
»Was ist das für eine Klampfe?«, wechselte Jouni das Thema.
Ariel beruhigte sich, seine Miene erhellte sich fast.
»Eine Levin«, antwortete er, »eine sch-schwedische Gitarre.«
»Sie sieht gut aus, also muss sie teuer sein«, meinte Jouni. »Was hast du gespielt, als ich vorbeigegangen bin?«
»Samertaim blues«, sagte Ariel.
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