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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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»K-k-kokkran. Es ist ein altes Lied.«
    »Klang gut«, sagte Jouni versöhnlich.
    »Es ist ein g-gutes Stück, auch wenn es schon alt ist.«
    »Spiel’s nochmal«, sagte Jouni in einem Ton, der verriet, dass er Gehorsam gewöhnt war. Ariel schlug erneut die Akkorde an: ta-da-da-damm, ti-di-di-damm . Jounis Kopf hüpfte in der Fensteröffnung auf und ab. Er fand es seltsam, dass dieser dürre und ängstliche Ariel so kraftvoll spielen konnte. Nach einer Weile war Ariel es leid und spielte stattdessen eine Melodie. Auch das klang gut.
    »Was war das letzte?«, fragte Jouni.
    »Woolkdontrann«, antwortete Ariel. »H-hast du das noch nie gehört?«
    Jouni schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß nicht, ob die Gitarre teuer ist oder nicht«, sagte Ariel und stotterte plötzlich nicht mehr. In den folgenden Jahren sollte Jouni lernen, dass dies typisch für Ariel war: Manchmal ließ er eine Frage unbeantwortet, um später auf sie zurückzukommen, wenn man am wenigsten damit rechnete. Und sein Stottern konnte ebenso schnell verschwinden, wie es auftauchte, wenn er Angst bekam.
    »Die habe ich schon immer gehabt«, fuhr Ariel fort. »Sie hat meinem V-Vater gehört, jedenfalls behauptet das meine Mutter. Es ist das Einzige, was er mir hinterlassen hat.«
    »Du hast keinen Alten?«, sagte Jouni nachdenklich.
    »Nee. Er ist nach Sch-Schweden gefahren, als ich klein war, und dann bei einem Verkehrsunfall gestorben. Eigentlich war er Trompeter, die Gitarre hatte er nur zum Sp-spass.«
    »Deshalb hat er sie hier gelassen«, sagte Jouni. Er verstummte, schien zu zögern, sagte dann jedoch schnell: »Ich hab auch keinen. Meiner ist vor drei Jahren gestorben. Er hat im Knast gesessen. Mamas Alter hat ihn erstochen. Also nicht ihr richtiger, sondern ihr Stiefvater. Honkanen. Er ist Anführer einer Bande.«
    Ariel entgegnete nichts. Er wirkte ermattet, als hätte er soeben mehr Informationen bekommen, als er verarbeiten konnte.
    »Du hast ja auch Platten«, sagte Jouni und zeigte mit einem schmutzigen Finger auf einen kleinen Ständer aus schwarzem Plastik, in dem einige Schallplatten ohne Hülle standen.
    »Die gehören meiner M-Mutter. Aber ihr Plattenspieler ist kaputt, und wir können es uns nicht leisten, ihn r-reparieren zu lassen.« Ariel sah grübelnd Jouni an, der inzwischen angestrengt wirkte: Sein Gesicht war rot angelaufen, und seine Arme zitterten ein wenig, mittlerweile hing er seit vielen Minuten in dem Fenster. »Warum hast du mich geschlagen?«, fragte Ariel. Sein Ton war nüchtern und sachlich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, ausgerechnet diese Frage zu stellen.
    Jouni schwieg überrumpelt. Das hatte ihn bisher keines seiner Opfer gefragt. »Ich weiß es nicht«, antwortete er nach langem Schweigen. Er war verlegen, und um Ariels Aufmerksamkeit abzulenken, zeigte er erneut in das Zimmer, auf das Foto eines jungen Mädchens in einer adretten Bluse: Das gerahmte Bild stand auf einem Büfett zwischen einer bauchigen blauen Blumenvase und einem Weihnachtsmann, den jemand aus einer Toilettenpapierrolle und Watte gebastelt hatte, und das Mädchen hatte dunkle Haare und war schön, sah auf der Aufnahme jedoch ernst, fast schon wütend aus.
    »Ist das deine Braut?«, erkundigte er sich.
    Ariel schüttelte den Kopf. »Nee, das ist Adriana. Sie ist meine … na ja, wir sind irgendwie über zwei oder drei Ecken verwandt. In meiner früheren Schule ging sie in die K-K-Klasse unter mir.«
    »Wo war das?«
    »In B-Broban. Eine schwedischsprachige Schule. Wir haben in Rödbergen gewohnt.«
    »Du bist Schwede?«, fragte Jouni.
    »Ich weiß nicht. Ich denke, ich bin sowohl als auch. Mein Alter ist wohl einer gewesen. Und meine Mutter, Lydia … die ist ein bisschen von allem.« Er verstummte und sah Jouni unverwandt an. »Du f-fragst viel«, ergänzte er dann.
    »Ich hab schon in einer Menge Gegenden gewohnt«, sagte Jouni. »In Hertsika zum Beispiel. Und als mein Alter noch bei uns wohnte, am hinteren Ende der Mannerheim.«
    »Wir ziehen auch oft um«, gestand Ariel.
    »Sie sieht aus wie ein Filmstar, deine die da … was immer sie ist«, sagte Jouni.
    »Eine V-verwandte d-dritten Grades, denke ich«, erwiderte Ariel. »Zumindest sagt das meine Mutter. Das ist von ihrer K-K-Konfirmation, ich war da. Sie war im September, das Bild ist vorgestern gekommen. Sie trugen alle, du weißt schon, dieses w-weiße Kleid, aber als Fotos gemacht werden sollten, hat Adriana sich geweigert. Sie hat das weiße ausgezogen und auf eine

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