Geh nicht einsam in die Nacht
vergessen, herauskommen und mit Frank und mir die Wirklichkeit teilen würdest!« Anschließend senkte Henry die Stimme, woraufhin sie längere Zeit so leise murmelten, dass ich das Interesse verlor, ich las die Sportseiten in Expressen und trank eine Limonade, die Zingo hieß, und horchte erst wieder auf, als Leeni erklärte: »Aber ich begreife einfach nicht, wie das möglich ist, es geht hier doch nicht um irgendeinen Jedermann !« Ihre Stimme klang schon etwas ruhiger, und als Henry antwortete, hörte ich, dass er so gluckste, wie er es immer tat, wenn er zwar noch wütend war, aber versuchte, dies zu überspielen, weil er sich mit Leeni versöhnen wollte. »Nein, das ist wohl wahr, aber es geht auch nicht um Frankensteins Monster«, erwiderte er. Ich fand das Ganze so langsam richtig spannend. Frankensteins Monster und Jedermann, war er vielleicht der amerikanische Massenmörder, über den ich jahrelang fantasiert hatte? Doch an dem Punkt endete die Diskussion. Und hatte ziemlich traurige Folgen, denn Leeni blieb schweigsam und abweisend, und ihre Laune übertrug sich auf Henry: Mein Vater trank an diesem zweiten Abend zu viel. Sie hatten mich das Restaurant aussuchen lassen, und ich hatte mich für eine Pizzeria namens Napoli entschieden, denn ich hatte bereits von Pizzen gelesen, die es in Finnland damals aber noch nicht gab. Ich aß eine gute Pizza, die Cacciatore hieß, aber Henry und Leeni aßen ihre nur halb auf. Stattdessen bestellte Henry drei große Gläser Bier, und sobald wir das Hotelzimmer betreten hatten, machte er sich über die Minibar her. Leeni bekam eine verbitterte Falte an der Nasenwurzel, aber Henry tat es trotzdem, er schenkte sich eine Miniflasche Whisky und Cognac nach der anderen ein, und es herrschte eine mürrische und triste Stimmung, die sich auf der gesamten Rückreise hielt.
Auf dem Heimweg stießen wir im Flughafen von Helsingfors auf Familie Mansnerus, die drei ganze Wochen in einem Hotel am Gardasee verbracht hatte und nun für zwei weitere Urlaubswochen auf ihre Schäreninsel fahren wollte, alle außer Eva, die den gesamten August in einer Boutique in der Innenstadt arbeiten würde.
Eva war mit ihren Eltern nicht allein. Ich erkannte Göran und Catherine Mansnerus, die ich bei abendlichen Spaziergängen im Waltervägen gesehen hatte, wo sie wohnten. Aber sie wurden von einer brünetten Frau begleitet, deren Alter schwer zu schätzen war. Sie war jünger als Göran und Catherine, die damals schon relativ alt waren, über fünfzig, aber gleichzeitig war sie wesentlich älter als Eva, sie hätte fast im selben Alter sein können wie Leeni. Diese Übereinstimmung wurde noch dadurch betont, dass die fremde Frau, die gerade drei Wochen in Italien verbracht hatte, fast so blass war wie meine sonnenscheue Mutter. Aber die Fremde war in einer leicht verlebten Weise schön, und obwohl ihre Haare im Gegensatz zu Evas blonden braun waren, entgingen mir die Ähnlichkeiten nicht: die Stupsnase, die fein geschnittene Unterlippe, der schlanke Knochenbau, alles war da. Damals nahm ich an, dass die Frau eine Halbschwester oder sehr junge Tante Evas war. In Wahrheit hatte ich zum ersten Mal Evas große Schwester Adriana gesehen.
Das Ehepaar Mansnerus gehörte nicht zum Bekanntenkreis meiner Eltern, ich glaube nicht, dass sie die beiden wirklich kannten. Dagegen wussten sie sicher voneinander, wie man es in kleinen Ortschaften tut. So nehme ich an, dass Göran und Catherine Mansnerus wussten, wer mein Vater war, da es gewisse Verbindungen zwischen ihnen und den Familien Gelbkrantz und Bacher gab, für die Henry arbeitete. Außerdem mussten sich Henry, Leeni, Göran und Catherine schon einmal begegnet sein, bevor sie sich auf dem Flughafen trafen, denn sie stellten sich einander nicht vor, sondern sagten sofort »Guten Tag« und gaben sich die Hand. Wahrscheinlich waren sie sich auf Elternabenden in der Schule und an ähnlichen Orten begegnet. Aber es war das erste Mal, dass ich die beiden Paare zusammen sah, und ich fand ihre Begegnung leicht angespannt und verkrampft. Außerdem hatte ich eindeutig das Gefühl, dass diese Verkrampfung von meinen Eltern ausging und nicht von Familie Mansnerus, was ich allerdings nur sehr flüchtig registrierte, denn es war natürlich so – wie es noch sehr lange bleiben sollte: Wenn Eva Mansnerus anwesend war, konzentrierte ich mich ganz auf sie.
Eva sprach auf dem Flughafen mit mir. Ein paar aus dem Mundwinkel gemurmelte Worte, nicht mehr, die mich jedoch
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