Geh nicht einsam in die Nacht
bedeutet es »Verteilerdose«, aber die übertragene Bedeutung lautete »Süßes für alle«. Ob Jatta und Cami und Vara-Lotta und die anderen ihren schlechten Ruf hatten, weil sie auf den Rosari gingen, oder auf den Rosari gingen, weil sie einen schlechten Ruf hatten, weiß ich dagegen nicht.
Dass ein Mädchen aus der Eigenheimsiedlung dort oben auftauchen würde, erschien uns unmöglich, von so etwas träumten wir nicht einmal. Ich, der ich zwischen diesen Häusern wohnte, sah diese Mädchen natürlich täglich. Ich sah sie in meiner Schule und auf dem Schulhof der Finnischen Gemeinschaftsschule, aber auch im Suviovägen und Waltervägen und an der Haltestelle der Linie 49, und ich sah sie in den Gärten, wo sie sich im Sommer in ihren Bikinis sonnten und im Herbst gegen Entlohnung Laub harkten. Sie waren blond wie Eva Mansnerus. Oder brünett. Oder schwarzhaarig. Aber sie hatten immer perfekte, ebenmäßige Zähne. Sie hatten perfekte, schlanke Körper und helle, leicht bedächtige Stimmen. Sie flößten einem ein Gefühl von etwas Unwirklichem ein, für das ich damals keine Worte fand, nicht einmal in meinen Liedtexten.
Ich war folglich verblüfft, ja fast schockiert, als ich an einem schönen Freitagabend Anfang Mai 1975 mit fünf Flaschen Lonkero, einem Mix aus Gin und Grapefruitlimonade, in einer anilinroten Plastiktüte auf den Rosari stieg und dort Eva Mansnerus an den Felsen gelehnt sitzen sah, flankiert von Ride Suikkanen und Pete Everi und mit einer halbleeren Flasche zwischen den Knien. Zu diesem Zeitpunkt war ich Eva acht Monate lang gefolgt, hatte aber noch kein Wort mit ihr gewechselt. Sie trug die halblange, dunkelgrüne Lederjacke, die den ganzen Herbst ihre Lieblingsjacke gewesen war und es immer noch war. Die Jacke stand offen, und darunter trug sie ein weißes T-Shirt. Eine ausgeblichene Jeans, die Füße in braunen Boots, auf den Stiefelspitzen war die Farbe fast vollständig abgewetzt. Die Haare wie schon seit längerem mit Dauerwelle. Sie griff nach der Flasche Liebfrauenmilch, hob sie an den Mund und trank einen großen Schluck. Ich begriff nicht, was sie dort zu suchen hatte. Eva Mansnerus auf dem Rosari. Das war Marzipan auf Blauschimmelkäse. Das war Jimmy Page als Gitarrist der Bay City Rollers. Das war Jacqueline Bisset als Nachbarin der Everis statt des alten Molanders, der säuerlich nach altem Schweiß roch und dermaßen furzte, dass man es durch die Wand hören konnte.
An diesem ersten Abend erfuhr ich lediglich, dass Eva in Begleitung Petes und Rides eingetroffen war und ihr Parfüm Charlie hieß. Es war seltsam, dass ihr Parfüm einen Jungennamen hatte, dass sie zusammen mit Pete und Ride gekommen war, erschien mir dagegen vollkommen logisch. Sie waren die ältesten von uns, Ride war am zweiten Weihnachtstag achtundfünfzig geboren und Pete im Herbst neunundfünfzig. Eva war im Juli achtundfünfzig geboren. Ich selbst war von allen der jüngste, zumindest in jenem Frühjahr war ich noch der jüngste.
Keiner von uns glaubte, dass sie noch einmal kommen würde. Aber das tat sie. Am folgenden Freitag war sie wieder da, ging zum Supermarkt und kaufte mittelstarkes Bier für alle, einen ganzen Korb voll. Eine Schirmmütze hatte die Runde gemacht, wir hatten Kollekte gehalten. Jeder so viel, wie er konnte, für jeden nach Bedarf: Keiner hielt nach, wie viel die anderen einsetzten, in dieser Hinsicht war der Zusammenhalt in der Gruppe gut. Eva sah aus wie eine Lady, und wenn man nicht gewusst hätte, dass sie erst knapp siebzehn war, hätte man sie leicht für zwanzig halten können. Außerdem war der gewählte Supermarkt ein »einfaches« Geschäft im Gegensatz zu einem anderen, dessen barscher Filialleiter Lotvonen bei allen Bierkäufern unter vierzig »Papiere!« knurrte.
Als Eva – und Pete und Ride, die vor dem Laden gewartet hatten und nun die Beute schleppten – am Felsen auftauchte, jubelten alle. Sogar der ewig skeptische Lare Nisonen ließ sich erweichen. In einer späteren Phase des Abends, als wir den Korb fast leergetrunken hatten und bereits zu härteren Getränken übergegangen waren, entschlüpfte Nisonen, dass Eva Mansnerus ein ihan jees muija , ein sauberes Mädel sei, kurz bevor sie ankam, hatte er noch gesagt, sie sei eine luksuspillu , eine Luxusmöse.
Von da an kam sie regelmäßig. Sie war älter als wir und galt als eines der hübschesten Mädchen in ganz Tallinge. Wir anderen dort oben waren, mit Ausnahme Petes vielleicht, ausnahmslos Loser. Keiner von uns
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