Geh nicht einsam in die Nacht
schien wirklich fassen zu können, dass Eva Mansnerus tatsächlich Abend für Abend mit uns zusammensaß. Trotzdem schwebte während des ganzen Frühjahrs so dick, dass sie fast mit Händen greifbar war, die Frage über dem Rosari: Wer würde sie bekommen?
Wir hatten da oben einen batteriebetriebenen Kassettenrekorder, und ich erinnere mich, dass Pete ein Mixtape herausholte, auf dem hinter Led Zeppelins Kashmir John Lennons Stand By Me folgte. Ich höre John Bonhams bleischweres Schlagzeug in Kashmir und Jesse Ed Davis’ schönes Gitarrensolo in Stand By Me , die Luft ist kalt, ich höre Pete Everi sagen, dass fette Konservensardinen auf Knäckebrot die beste Medizin gegen einen Kater sind, ich höre Jami Johansson über Petes Kommentar kollern und Eva Mansnerus leise kichern. Mir wird klar, dass ich den ganzen Abend dort gesessen und Eva angestarrt habe, und deshalb lasse ich meinen Blick stattdessen über die Eisenbahnlinie und die Siedlung auf der anderen Seite schweifen. Die Rasenflächen zwischen den Hochhäusern leuchten intensiv, das frische Gras phosphoresziert und verströmt hellgrünes Licht auf den weißen und graphitgrauen Betonwänden. Weiter oben färbt der Sonnenuntergang die obersten Stockwerke rot, und der Himmel darüber ist fast türkis. Und dann ist es plötzlich Juni, und die Gang hat sich für die Zeit des Sommers aufgelöst.
* * *
Ende Juli jenes Jahres reisten Henry, Leeni und ich nach Stockholm. Es war keine lange Reise, nur ein paar Tage, aber sie war ungewöhnlich, weil wir sonst nie gemeinsam verreisten. Henry war beruflich viel unterwegs, Leeni fuhr gelegentlich zu einer Lehrerkonferenz, ich reiste außer nach Svartviken nirgendwohin, so sahen die Grundbedingungen aus.
Wir nahmen nicht die Fähre, sondern das Flugzeug, und in Stockholm wohnten wir in einem Drei-Sterne-Hotel am vornehmen Strandvägen, Henry hatte wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Startpunkt war Svartviken, und wir fuhren nicht über Tallinge, sondern stellten den Renault während unserer Abwesenheit am Flughafen ab. Wir reisten mit wenig Gepäck. Der Sommer fünfundsiebzig war sonnig und heiß, man musste keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, keine warmen Kleider für alle Fälle einpacken. In den Tagen vor unserer Abreise war das Wasser in der Bucht so lau gewesen, dass man darin liegen bleiben konnte, bis man schrumpelig wurde, und das Thermometer an der Leiter am Ende des Stegs zeigte fast dreißig Grad an.
Der erste Tag verlief schön, in Stockholm war es genauso heiß und sonnig wie in Finnland, und Henry und Leeni waren glänzender Laune. Am Abend aßen wir in einem vornehmen Restaurant, und sie tranken Wein, flirteten und hatten Spaß. Leeni trug ein blaues Sommerkleid und einen großen hellen Hut, und ich erinnere mich, dass sie Witze über den Hut machten. Ich entsinne mich auch, dass ich mich wohlfühlte, gleichzeitig jedoch auch ein bisschen für meine Eltern schämte. Ich dachte an die coolen Jeansjacken und Boots auf dem Rosari, und daraufhin musterte ich Henry, der in der Hitze stark schwitzte, und Leeni, deren Haut ganz hell war, obwohl es ein fast tropischer Sommer gewesen war. Sie hatte den ganzen Juli wie üblich im Schatten gesessen, meistens im Haus, und ihre Lake-District-Dichter und andere Poeten gelesen.
Der zweite Tag gestaltete sich schwierig. Es muss etwas passiert sein, aber ich erfuhr nie, was. Am Nachmittag war Leeni shoppen. Henry und ich gingen ins Kino und sahen Der Pate II , der gerade angelaufen war. Henry musste ziemlich lange mit dem Kartenkontrolleur diskutieren, ehe er mich mitnehmen durfte, er gab sogar mein Alter falsch an, und ich war stolz, weil er sich traute zu lügen. Als wir uns im Hotel trafen, benahm Leeni sich seltsam. Blass war sie ja immer, aber jetzt war sie außerdem nervös und blieb es während der restlichen Reise. Henry versuchte, sie zu trösten und zu beruhigen, so gut er konnte, schien jedoch nicht sonderlich erfolgreich zu sein.
Die beiden gaben ihr Bestes, um mich aus der Sache herauszuhalten, so dass ich nur zusammenhangslose Dialogfetzen aufschnappte, die für mich keinen Sinn ergaben. Ich hörte Henry etwas entschieden, fast aggressiv beiseite wischen, was Leeni gesagt hatte. »Aber das ist doch völlig barock!«, fauchte er (er benutzte oft das Wort »barock« für Dinge, die ihm missfielen), und danach: »Du hast wieder den ganzen Sommer über deinen Büchern gehockt, Leeni. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung deine Hirngespinste
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