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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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verlassen. Manchmal, wenn ich davoneilte, um den Zug in die Stadt zu nehmen, oder zur Garage ging, um mir Henrys Renault zu leihen, sahen sie aus, als wollten sie mich aufhalten und mir gute Ratschläge erteilen. Aber sie sagten nie etwas, und dafür hätte ich auch gar keine Zeit gehabt. Obwohl ich mich mit Leeni durchaus noch unterhielt. Sie drillte mich vor dem Examen in Englisch, indem sie mir The Love Song of J. Alfred Prufrock und The Hollow Men vortrug und mir Do Not Go Gentle von Thomas und Funeral Blues von Auden und anderes vorlas, es waren schwierige Texte, aber ich mochte sie, und zwischen ihren Vorträgen versuchte Leeni, mich zu fragen, wohin genau Pete Everi eigentlich verschwunden war und was aus der jüngeren Tochter Mansnerus geworden war und mit wem ich mich in letzter Zeit so traf. Ich antwortete so ausweichend, wie ich nur konnte, im Grunde gab ich ihr gar keine Antwort, aber als es Frühling wurde, stellte sich heraus, dass unser Schattenboxen zu einem hervorragenden Ergebnis geführt hatte. In Englisch erreichte ich die Bestnote.
    Am Tag nach meiner Abiturfeier kehrte ich gegen acht Uhr morgens nach Tallinge zurück. Ich war genauso angeschlagen wie meine Abiturmütze. Sie war feucht und roch nach Schnaps, jemand hatte Branntwein auf sie verschüttet. Das Fest hatte im Nachtclub Brunnshuset begonnen und hinterher, als die Türsteher uns hinausgeworfen hatten, saßen wir mit einer größeren Gruppe auf einem der Teppichwaschstege am Brunnsparksufer, tranken weiter und sprachen lallend darüber, was wir werden wollten. Mit von der Partie waren einige meiner Klassenkameraden aus Tallinge, Riku Bexar aus Munksnäs und seine Freunde Cia und Robe sowie ein Musiker namens Aka, der drei Mal die letzte Klasse absolvieren musste, bis er endlich das Abitur geschafft hatte, und viele andere.
    Es war ein schöner Morgen, und die Vögel trällerten wie verrückt vor meinem Fenster, aber ich zog die Vorhänge zu und fiel ins Bett. Ich hatte die Absicht, den ganzen Frühsommertag zu verschlafen. Ich versank in tiefer und traumloser Bewusstlosigkeit, hatte aber nur wenige Stunden geschlafen, als Henrys Stimme mich zur Rückkehr zwang.
    »Frank! Frank! Könntest du bitte aufwachen, ich muss mit dir reden!«
    Die Stimme meines Vaters war hartnäckig, und ich öffnete widerwillig die Augen. Es war noch Vormittag, der Radiowecker zeigte 11:25 an.
    »Warum denn gerade jetzt?«, sagte ich. »Kann das nicht warten?«
    Henry wirkte ernst, konnte es sich aber trotzdem nicht verkneifen, meinen Zustand zu kommentieren.
    »Oh verdammt, hier stinkt’s vielleicht«, sagte er, »man wird ja schon blau, wenn man hier nur atmet!«
    »Ja ja, Papa«, zischte ich gereizt, »jetzt lass mich schlafen!«
    Aber er ließ nicht locker.
    »Ich muss wirklich mit dir reden«, erklärte er, und seine Stimme wurde wieder so seltsam dringlich: So klang er sonst nie. »Wenn du eine Tasse Kaffee trinkst und ordentlich frühstückst, schüttelst du den schlimmsten Kater ab. Sagen wir in einer Stunde in meinem Arbeitszimmer?«
    Widerwillig stand ich auf. Feste Nahrung bekam ich nicht hinunter, aber ich trank eine Tasse Kaffee und duschte, und danach trank ich noch einen Kaffee, rauchte eine Mentholzigarette und fand, dass es mir schon etwas besser ging.
    Das Arbeitszimmer meines Vaters lag hinter dem Wohnzimmer. Ein kleiner Raum mit einem Regal voller Aktenordner, einem Schreibtisch und einem Stuhl. Auf dem Schreibtisch befanden sich eine Schreibunterlage, ein Tischkalender und zwei Rechenmaschinen, eine größere und eine kleinere. Außerdem stand dort einer dieser runden Aschenbecher, die einen Griff hatten, der eine sich drehende Scheibe herunterdrückte, so dass die Kippe verschwand. Henry bewahrte immer eine oder zwei angebrochene Stangen Zigaretten im einzigen Schrank des Zimmers auf, und gelegentlich zweigte ich etwas von seinem Vorrat ab. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand unser zweites Telefon. Ich fand mich pünktlich ein. Henry stand am Fenster, die Luft hing voller Zigarettenrauch.
    »Wo ist Mama?«, fragte ich. Meine Stimme war nach der Grölerei am Vorabend und in der Nacht heiser. »Und wieso bist du zu Hause, müsstest du nicht im Büro sein?«
    »Leeni ist für ein paar Tage fort. Sie muss sich … ausruhen.« Henry schwieg einen Moment, drehte sich dann um, sah mich an und ergänzte: »Und ich habe mir frei genommen, um mit dir zu reden.«
    So langsam bekam ich wirklich Angst. Ich durchforstete mein Gedächtnis nach einem

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