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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Stimme wieder im Griff hatte. »Es war doch nur eine Verirrung. Er war bloß ein Junge, noch jünger als …«
    »Und wer zum Teufel ist er!?«, schrie ich fast. »Und wo ist er, verdammt nochmal!«
    »Er hieß Ariel Wahl«, sagte Henry und sprach den Namen langsam und deutlich aus, damit ich ihn richtig verstand. »Und er ist leider seit vielen Jahren tot.«
    Als er die letzten Worte aussprach, blickte er mich scheu an. Ich sah ihn an und schüttelte wütend und verständnislos den Kopf. Als ich nichts sagte, fuhr er fort: »Er war … Musiker. Lebte so, wie sie das in den Sechzigern so machten. Er ist schon seit neunundsechzig tot.«

D IAMANTEN UND R OST

1
    ICH VERLIESS DEN TANNERVÄGEN und Tallinge. Ich verschwand, ich machte mich so wutschnaubend und rigoros aus dem Staub, wie man es nur als Achtzehnjähriger tun kann, und schwor mir, nie wieder einen Fuß dorthin zu setzen.
    Anfangs schlief ich bei Freunden, aber ich arbeitete in jenem Sommer in einem Rundfunkgeschäft, was mit gewissen Aufforderungen verbunden war: saubere und ordentliche Kleider, ein höflicher Umgang mit den Kunden und keine Fahne. Meine Freunde lebten wie Bohemiens, und ich war die Morgenstunden mit Kopfschmerzen, schwarzem Kaffee und Fisherman’s-Friend-Pastillen leid, mit denen ich die Fakten der Nacht vor Filialleiter Hyyppönen zu verbergen suchte, der mich schon ein wenig schief ansah. Ich hatte Glück. Aka Lindberg, der Musiker, fuhr nach Stockholm, um dort im Krankenhaus Beckomberga zu jobben, und würde bis Oktober fort sein, und so durfte ich in seiner Abwesenheit seine Wohnung haben.
    Als ich eine eigene Bude hatte, kaufte ich mir als Erstes einen Plattenspieler und London Calling . Ich hatte mich von Leeni und Henry ferngehalten, obwohl sie Klasu Barsk und Riku Bexar und ein paar andere angerufen hatten, deren Namen sie kannten. Meine Kumpel hatten mir ausgerichtet, dass ich sie anrufen solle, wenn ich Zeit habe. Die hatte ich nicht, aber nun benötigte ich meine Plattensammlung und Kleider, meine Science-Fiction-Bücher, meinen Führerschein und einiges mehr.
    Ich fragte eine meiner Freundinnen, ein hageres Mädchen namens Jinx Muhrman, ob sie sich den BMW ihres Vaters leihen und anschließend mir ausleihen könne. Jinx war ein Punk und mochte es nicht, wenn man sie daran erinnerte, dass sie aus einer wohlhabenden Familie stammte. Schließlich gab sie trotzdem nach und brachte das Auto vorbei. Es war der Donnerstag vor dem Mittsommerwochenende, Jinx klingelte in der Abenddämmerung an meiner Tür, und als ich ihr aufmachte, sagte sie »Grüß dich Frank, meine Alten sind übers Wochenende auf irgendeiner Insel, hier, fang!«, und warf mir die Autoschlüssel gegen die Brust. Ich sagte »thanks«, und dann standen wir da und glotzten uns an, Jinx im Treppenhaus und ich hinter der Türschwelle, bis ich mich endlich fing und hinzufügte: »Magst du vielleicht kurz reinkommen?« »Ja, ich hab mir überlegt, ich komm rein, und wir vögeln ein bisschen.« »Wie bitte?«, sagte ich. »Irgendetwas wird man ja wohl dafür erwarten können, dass man so hilfsbereit ist«, erwiderte sie.
    Ich brach also meinen Schwur, nicht heimzukehren, denn am folgenden Nachmittag fuhr ich nach Tallinge. Ich war nervös, Polizeikontrollen waren auf den Autobahnen keine Seltenheit, und mein Führerschein lag in der obersten Schreibtischschublade meines Jugendzimmers. Außerdem hatte ich den Führerschein weniger als ein Jahr, und meinem Leihwagen fehlte die Vignette, die mich als Fahranfänger auswies. Aber es ging alles gut, und als ich ankam, parkte ich das Auto im Waltervägen vor dem früheren Haus von Familie Mansnerus. Göran und Catherine hatten es verkauft und waren im April angeblich in eine Wohnung in Munksnäs gezogen.
    Ein menschenleeres Tallinge döste im klaren Sonnenlicht. Nach den vielen Jahren da draußen kannte ich die Bedingungen: Die Einfamilienhäuser und Reihenhäuser standen im Sommer leer, in den Hochhäusern blieb man dagegen zu Hause. Wollte man jemanden treffen, musste man folglich den Suviovägen Richtung S-Bahn-Station nehmen. Aber das wollte ich nicht, ich wollte nicht entdeckt werden.
    Unsere Wohnung stand erwartungsgemäß leer. Leeni und Henry waren – nahm ich zumindest an – nach Svartviken hinausgefahren, vielleicht nur übers Wochenende, vielleicht in Urlaub. Ich raffte so viele Kleider und Bücher zusammen, wie in die drei Umhängetaschen passten, die ich mitgebracht hatte. Die LPs legte ich auf die Rückbank, alle

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