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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Fehler oder Vergehen, das ich kürzlich begangen haben könnte, aber mir fiel nichts ein.
    »Was habe ich getan?«, fragte ich.
    Henry verließ seinen Standort am Fenster, setzte sich an den Schreibtisch und drückte seine Zigarette aus. Seine Hand zitterte. Der Aschenbecher war randvoll, und die Scheibe wollte sich einfach nicht drehen, so sehr er auch drückte: die Kippe blieb auf ihr liegen, und ich sah, wie andere Kippen ihre zusammengedrückten Schnauzen unter der glänzenden Scheibe hervorschoben.
    »Nichts, mein liebes Kind. Du hast doch nichts getan! Im Gegenteil …« Er verstummte erneut, seufzte dann jedoch schwer und sagte: »Mir ist durchaus bewusst, dass du heute nicht in der besten Verfassung bist. Aber die Sache wird nicht leichter, wenn wir damit warten.«
    Ich wusste nicht, wann mein Vater mich zuletzt liebes Kind genannt hatte. Ich wusste nicht, ob er es überhaupt jemals getan hatte. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich spürte, dass ich besser doch etwas gegessen und nicht nur Kaffee getrunken und geraucht hätte. Und ich fragte mich, was zum Teufel eigentlich los war.
    »Wir haben …«, begann Henry nervös, sprach aber nicht weiter.
    Es wurde vollkommen still im Raum, er sagte nichts, ich sagte nichts, nur das Vogelzwitschern draußen. Er machte einen neuen Anlauf:
    »Leeni und ich haben schon sehr früh beschlossen, wenn du volljährig bist und dein Abitur gemacht hast, dann werden wir es dir … nun ja, erzählen. Es ist nämlich so, dass … nein, verdammt. Zum Teufel!«
    Er klang nicht aggressiv, als er fluchte, eher resigniert. Er nestelte an seiner Zigarettenschachtel herum, schüttelte eine Fluppe heraus, steckte sie in den Mundwinkel, überlegte es sich anders, nahm die Zigarette und legte sie auf den Tisch.
    »Es ist nämlich so, dass ich nicht dein richtiger Vater bin. Will sagen, nicht dein biologischer Vater. In jeder anderen Hinsicht schon. Aber …«
    Mehr brachte er nicht heraus. Und ich war blau. Ich war immer noch sturzbetrunken. Ich begriff nicht, was er da sagte. Aber wer weiß, selbst wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich es vielleicht nicht verstanden.
    »Wie meinst du das?«, fragte ich, als die Stille allmählich wieder unerträglich wurde.
    Henry nahm die Zigarette vom Tisch und zündete sie an, ehe er mir antwortete.
    »Ich meine es genauso, wie ich es gesagt habe, Frank. Leeni … sie wurde schwanger, als sie neunzehn war. Aber es war nicht … Ich interessierte mich für sie, aber wir haben nicht … Raili passte es nicht, dass ich Leeni den Hof machte, sie fand mich zu alt.«
    Ich begriff immer noch nicht, was er da sagte. Aber irgendetwas in mir begann offenbar doch zu verstehen, denn mir wurde schlecht. Obwohl das natürlich auch an etwas anderem liegen mochte. Ich muss grimassiert, oder meine Augen müssen wüst gefunkelt haben oder etwas Ähnliches, denn Henry sah mich besorgt an.
    »Mir ist bewusst, dass dies … ein Schock für dich ist«, sagte er. »Aber ich beantworte alle deine Fragen, Ehrenwort.«
    Ich brachte noch immer kein Wort heraus. Ich erinnere mich vage, dass ich in diesem speziellen Moment die Arme in einer Geste ausbreitete, die ungläubig, fragend, wütend, alles zugleich gewesen sein muss.
    Henry versuchte, die Lücke zu füllen, die mein Schweigen schuf.
    »Ich war mehr als nur interessiert. Ich war verliebt in sie. Und als sie sich mir anvertraute … nun ja, da machte ich ihr einen Antrag. Wir einigten uns darauf, alles geheim zu halten, und ich sagte ihr, dass ich das Kind lieben würde wie mein eigenes.«
    Ich fand endlich die Sprache wieder.
    »Sag mal, was redest du da eigentlich!?«
    »Und das habe ich getan«, sagte Henry leise und sah plötzlich auf den Tisch hinab. »Wir sind natürlich davon ausgegangen, dass du Geschwister bekommen würdest. Aber es wollte einfach nicht klappen …«
    Mittlerweile zitterten nicht nur seine Hände, sondern auch seine Stimme. Ich befürchtete, dass er in Tränen ausbrechen würde. Ich hatte ihn niemals weinen sehen.
    »Großer Gott!«, sagte ich. Mir wurde immer übler. Ich versuchte verzweifelt, zu verstehen und klare Gedanken zu fassen. Irgendwo in meinem Hinterkopf ahnte ich, dass es Fragen gab, die gestellt werden mussten. Und mitten in meiner Ungläubigkeit verwandelte sich diese Ahnung in eine Erkenntnis.
    »Aber was ist mit dem richtigen … warum wurde er nicht …?«
    »Das war nie geplant«, antwortete Henry leise. Meine Übelkeit ließ etwas nach, als ich hörte, dass er seine

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