Geh nicht einsam in die Nacht
gerade an einer Hausarbeit oder so.«
Wo immer Eva auch gesteckt haben mag, sie meldete sich jedenfalls erst wieder Anfang August bei mir. Sie rief an, und ich war ausnahmsweise zu Hause. Wir hatten uns lange nicht gesehen, und sie fragte, was ich im Frühjahr und Sommer so getrieben hatte. Ich antwortete ziemlich vage, weil ich fand, dass ich kaum etwas gemacht hatte: die vorletzte Klasse abgeschlossen, schlechte Noten bekommen, wieder im Lager gearbeitet. Hinzu kamen Dinge, von denen Eva lieber nichts erfahren sollte. Zum Beispiel, dass ich mit Suski Everi geknutscht hatte oder im Juli im Alibi ein Mädchen getroffen und zum ersten Mal gevögelt hatte, ohne dass daraus mehr geworden wäre, oder dass ich, inspiriert davon, nun endlich zu wissen, wie es war, mit einem Mädchen zu schlafen, zwei neue Liedtexte geschrieben hatte.
Ich wollte Eva natürlich nach Adriana und danach fragen, wie es ihr, Catherine und Göran ging, ich wollte ihr mein Beileid aussprechen, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und brachte ein paar Phrasen und Gemeinplätze heraus.
»Danke«, sagte Eva, »aber ich möchte lieber nicht darüber reden.«
»Was ist mit Aspholm?«, fragte ich dennoch.
»Wir verkaufen unseren Anteil an meine Tanten«, antwortete Eva. »Sie sind diesen Sommer auch nicht dort gewesen, aber für sie wird es später sicher wieder gehen. Aber ich … wir … wir können da einfach nicht mehr hinfahren.«
Ich merkte, dass ich teilnehmend ins Telefon nickte. Dumm, denn das konnte Eva ja nicht sehen.
»Ehrlich gesagt ist das auch der Grund für meinen Anruf«, fuhr Eva fort.
»Aha?«, sagte ich verblüfft, da ich keine Ahnung hatte, worauf sie hinauswollte. »Ich habe gerade aufgehört zu jobben. In einer Woche fange ich einen Sprachkurs an, aber im Moment habe ich frei. Ich möchte wegfahren. Irgendwohin, wo es schön ist. Ich bin den ganzen Sommer in der Stadt gewesen.«
Ich verstand immer noch nicht, was sie mir sagen wollte.
»Du hast doch immer so viel von dem Haus gesprochen, das ihr mietet. Dass es da so schön ist. Können wir da nicht hinfahren? Sind deine Eltern im August nicht immer schon in der Stadt?«
Ich weiß noch, wie mein Herz pochte. Nein, nicht pochte: hämmerte.
»Stimmt, sie arbeiten schon wieder«, antwortete ich und hatte einen ganz trockenen Mund bekommen. »Aber wie kommen wir hin? Ich fange erst im September mit dem Führerschein an …«
»Ich fahre«, erwiderte Eva. »Ich kann mir bestimmt den Audi leihen. Papa ist im Ausland, und Mama trinkt … seit dem Frühjahr.«
»Ich habe Geburtstag«, sagte ich.
»Dein achtzehnter«, rief Eva. »Dann müssen wir fahren!«
Was soll ich über diese Tage sagen? Dass sie unwirklich, wie ein Traum waren? Dass sie mir vorkamen wie eine Stunde, aber gleichzeitig auch wie ein Monat? Ja, aber das trifft weder das Gefühl noch die Erinnerung an das Gefühl. Mir fehlten schon damals die Worte. In der Woche nach unserer Rückkehr nach Helsingfors versuchte ich bereits, Lieder über diese Eva-Tage in Svartviken zu schreiben. Aber es wollte mir nicht gelingen. Selbst dreißig Jahre später fehlen mir noch die Worte.
Die Wirklichkeit verschwand schon auf der Hinfahrt. Den Weg nach Svartviken – knapp zweihundertfünfzig Kilometer fast schnurgerade in nördliche Richtung durchs südliche Finnland – kannte ich mehr oder weniger auswendig. Die Strecke verband ich mit Henrys verrauchtem Renault, mit den Routinepausen an diversen Eiskiosken und Raststätten, mit Leenis verkniffener Miene, wenn Henry nach seinen Zigaretten wühlte und nur schnaubte, wenn sie ihn bat, langsamer zu fahren. Und am meisten verknüpfte ich diese Route mit Countrysongs wie Daddy Sang Bass , Detroit City und Galveston . Doch nun fuhren wir durchs Land, Eva und ich, in Göran Mansnerus’ Audi mit Klimaanlage, der immer noch nach neuem Auto roch, obwohl er schon ein paar Jahre alt war. Wir kamen in gemächlichem Tempo an all den bekannten Seen, Brücken und Dörfern vorbei und hörten kein Country and Western, sondern Sister Sledge, The Police und anderes.
Ich weiß, das ist die Stelle, an der ihr von mir hören wollt, ob wir es taten. Ich werde deshalb unsere gemeinsame Zeit nicht damit vergeuden, euch auf die Folter zu spannen. Ja, Eva und ich schliefen miteinander. Wir kamen eine Stunde vor Sonnenuntergang an, es herrschte eine Hitzewelle, wir öffneten eine Flasche Wein und setzten uns ans Ufer, weil Eva den Steg zu wackelig fand.
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