Geh nicht einsam in die Nacht
dreihundertsiebenunddreißig auf einen Haufen. Als ich den Wagen beladen hatte, warf ich meine Schlüssel auf den Küchentisch, zog die Tür hinter mir zu und fuhr davon. Soweit ich mich erinnere, herrschte Leere in meinem Kopf: keine Bilder, keine Gedanken. Man könnte meinen, ich hätte mich anders fühlen müssen, dass mich der Wille hätte antreiben müssen, Fragen zu stellen, Klarheit zu schaffen und zu verstehen. Aber so war es nicht. Ich war fast neunzehn und sah mich mit einer Tatsache konfrontiert, die ich nicht verarbeiten konnte. Ich wollte nur fliehen.
Später am Abend, als Jinx Muhrman, ihr memmenhafter Kumpel Viki Skrake, ich und ein paar andere im Park der Alten Kirche saßen und Wein tranken, redeten und sangen, wurde mir schlagartig bewusst, wie wenig ich noch in Tallinge hatte. Fast acht Jahre lang hatte ich dort gewohnt. Und das Ergebnis? Ich hatte immer noch eine Mutter, aber keinen Vater mehr. Die gesamte Familie Mansnerus war weggezogen, und die Rosari-Gang hatte sich in alle Winde zerstreut: Erst war Pete verschwunden, danach Jami und Ride und Klasu und Nisonen und Vara-Lotte und alle anderen. Von den Everis waren nur Veka und Suski übrig, und wie ich Suski kannte, würde auch sie bald abhauen, denn im Juli wurde sie achtzehn. Sicher, Make Everi war natürlich noch in Tallinge, im Männynlatva und in seiner Wohnung, genau wie Pot-Pesonen und Orvokki und alle anderen, die in der Kneipe hängen geblieben waren. Aber so wollte ich nicht enden.
* * *
In den ersten Jahren ging ich allem aus dem Weg, was mich an die Vergangenheit hätte erinnern können. Dazu gehörten auch Pete Everi und Eva Mansnerus.
Nicht, dass ich mich hätte anstrengen müssen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie waren so gut wie verschwunden. Manchmal lief ich in den Kneipen der Innenstadt Klasu Barsk über den Weg, der offenbar Kontakt zu Pete hielt. Auf dem Rosari hatte Barsk zu den wüstesten gehört – er war immer auf Ärger aus und wollte sich prügeln –, aber der Umzug in die Stadt hatte ihn in einen netten Kerl verwandelt. In einem Frühjahr wusste er zu berichten, dass Pete sein Studium fast abgeschlossen hatte und sowohl TV2 als auch die Zeitung Aamulehti ihm einen Job angeboten hatten. Da Aamulehti ein bürgerliches Blatt war, während das Fernsehen politisch eher linksorientiert war, ging ich davon aus, dass Pete den Job beim Fernsehen annehmen würde. Ich irrte mich. Ein paar Monate später erzählte mir Barsk, dass Pete sich für die Zeitung entschieden hatte.
Von Eva hörte ich nichts. Kein Lebenszeichen, nicht einmal Tratsch. Ich versuchte, mir einzureden, dass es besser so war. Wie Eva mich nach den Tagen in Svartviken abserviert hatte, ließ mich erkennen, dass ich für sie immer noch ein Kind war. Unsere gemeinsamen Augusttage erschienen mir immer unwirklicher, und wenn es mir manchmal zu begreifen gelang, dass Svartviken tatsächlich passiert war, wurden meine Erinnerungen von dem neu erwachten Gefühl einer Niederlage getrübt. Ich hörte ihre Bemerkung du bist noch so ein Grünschnabel und verstand inzwischen ihre Bedeutung. Eva hatte mit mir gespielt wie eine lüsterne Katze mit einer Waldmaus, der Sex war ihr abgedrehtes Geschenk zur Volljährigkeit gewesen, ein gedankenverlorener Zeitvertreib, mit dem sie sich zerstreute, während sie auf spannendere Abenteuer wartete.
Im Laufe meines Abiturfrühjahrs hatte sie mich mehrmals angerufen. Irgendwann bat sie als Erstes um Verzeihung, Entschuldige, dass es so gekommen ist, wenn noch etwas Zeit vergangen ist, werden wir uns aussprechen . Aber anschließend redeten wir sachlich über dies und das, vor allem über meine Klausuren und ihr Studium, und sie griff den Faden nie wieder auf.
Eines Winters kam mir zu Ohren, Eva sei ihr Studium leid gewesen und habe eine Stelle als Fremdenführerin auf Teneriffa angenommen, wo sie mit einem Spanier zusammenlebe. Jinx Muhrman erzählte es mir, sie war eine Kommilitonin Evas gewesen und wusste, dass sie wie ich aus Tallinge stammte. »Klar kenne ich sie, aber nur flüchtig«, hatte ich geantwortet, als Jinx mich fragte.
Mit der Zeit erfuhr ich ein bisschen mehr, denn Klasu Barsk verkündete die Neuigkeit, die superhübsche Eva Mansnerus sei nach einem Jahr im Ausland nach Finnland zurückgekehrt und habe einen schmierigen Spanier im Schlepptau. Die Worte »schmierig« und »im Schlepptau« sind meine Beschönigungen von Klasus aggressiver Art, die Geschichte zu erzählen. Klasu hielt nicht viel von Ausländern,
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