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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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die Gesetze der Straße als die der Politik verstand. Falls er die Beherrschung verlieren und sich auf mich stürzen sollte, würde ich gegen ihn chancenlos sein.
    Aber Manner stürzte sich nicht auf mich, sondern sagte mit eiskalter Stimme:
    »Woher kennst du dieses Lied? Das kennen nicht viele.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Jone. Warum sprichst du nie darüber?«
    Ich staunte über meine eigene Verwegenheit. Gleichzeitig hörte ich, dass man meiner Stimme die Angst anhörte.
    Manner antwortete nicht sofort. Er erhob sich aus seinem Stuhl und ging zum Fenster, blieb dort stehen und sah auf das Wasser hinaus. Wind war aufgekommen, unruhige und unfreundliche See, der Wind kam vom Meer, und ich sah einige Motorboote, die sich mit großer Mühe Richtung Süden vorarbeiteten. In Manner veränderte sich etwas, als er am Fenster stand. Ich sah, wie er seine zur Faust geballte Hand wieder öffnete. Dann sagte er:
    »Wenn du ihren Namen kennst, weißt du auch, dass sie tot ist, Frank. Deshalb.« Er schwieg wieder, sah aus wie ein Mann, der plötzlich in die Vergangenheit zurückgeschleudert worden war und dem das überhaupt nicht gefiel. Dann sagte er: »Tja, und … nicht nur sie. Ich bin der Einzige von uns, der noch lebt.«
    Seine Stimme klang jetzt anders, weicher. Ich wollte alle Bedenken fahren lassen. Ich fühlte mich nicht mehr betrunken: die eiskalte Schärfe der Situation, die Bürde all dieser Jahre, meiner und seiner, all das trug dazu bei, dass mein Gehirn plötzlich kristallklar arbeitete. Ich sah Manner an, dass es ihm genauso ging.
    »Ich bin nicht ehrlich zu dir gewesen, Jone. Es gibt … Dinge, die fast keiner über mich weiß, und …«
    »Ich habe schon begriffen, dass das hier kein Zufall ist«, entgegnete Manner. Seine Miene war wieder verbissen. »Sag, was du zu sagen hast, Frank.«
    »Ich heiße Loman«, sagte ich, »aber Henry Loman ist nicht mein leiblicher Vater.« Ich schluckte und fuhr fort:
    »Mein richtiger Vater war Ariel Wahl. Ich erfuhr es, als ich achtzehn war.«
    Manner stand noch immer am Fenster. Er wandte sich nicht um, sah mich nicht an, sagte nur:
    »Und du erwartest, dass ich dir dieses Ammenmärchen abkaufe?«
    Seine Stimme war vollkommen tonlos, seine Hand erneut zur Faust geballt. Ich sah, dass es in ihm rumorte, vielleicht so, wie es kurz zuvor in mir rumort hatte. Ich selbst war jetzt vollkommen ruhig. Es war vorbei. Die Blase war zum zweiten Mal geplatzt, jetzt wusste es nicht nur Eva. Nun war alles möglich. Manner konnte sich weigern, mir zu glauben, und mich als einen geisteskranken Lügner betrachten. In diesem Moment, im Morgengrauen in seiner Wohnung, war es mir egal.
    Manner sagte leise und feindselig:
    »Du solltest nicht glauben, dass das Leben ein verdammtes Melodram ist, in dem man …«
    »Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach ich ihn. »Es kommt noch schlimmer. Ich bin zehn Jahre lang in Adrianas jüngere Schwester verliebt gewesen.« Ich schwieg einige Sekunden und ergänzte: »Seit ich dreizehn war. Sie ging auf meine Schule.«
    Die Ergänzung war banal, ich bereute sie augenblicklich, sie kam mir kindisch und dumm vor. Aber Manner schien sie nicht einmal gehört zu haben. Er stand genauso regungslos wie zuvor, hatte mich immer noch nicht angesehen und offenbar auch nicht die Absicht, es zu tun. Er schien ein wenig zusammengesunken zu sein.
    »Du solltest jetzt gehen, Frank«, sagte er nach langem Schweigen. »Das war ein bisschen viel auf einmal.« Er machte eine halb verächtliche, halb großzügige Geste zum Serviertisch hin, auf dem noch ein paar ungeöffnete Flaschen standen, Rotwein, Cognac und Whisky: »Nimm eine Flasche mit, wenn du willst.«
    Danach herrschte völlige Funkstille. Mehrere Wochen vergingen, ich versuchte anzurufen, aber Manner nahm meine Gespräche nicht an. Wenn er sich zufällig selbst meldete, legte er sofort wieder auf, sobald er hörte, dass ich am Apparat war, und wenn ich eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterließ, rief er mich nicht zurück.
    Eines Tages rief er mich dann doch an.
    »Frank, hier ist Jouni«, begann er. Sein Ton war kurz angebunden und kühl. »Oder soll ich dich überhaupt Frank nennen, vielleicht heißt du ja ganz anders?«
    »Ich heiße Frank«, erwiderte ich.
    Es war still am anderen Ende der Leitung.
    »Wie war der Mädchenname deiner Mutter?«, fragte er schließlich.
    »Flinck«, sagte ich. »Leeni Flinck.«
    Wieder dieses Schweigen.
    »Die Schwestern Flinck aus der

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