Geh nicht einsam in die Nacht
sehen, als ich da draußen wohnte.« Ich erwähnte Eva Mansnerus nicht, obwohl es bei der Gelegenheit zwanglos möglich gewesen wäre, aber ich spürte, dass der Augenblick näherrückte, in dem ich die Karten auf den Tisch legen würde.
Manner lag viel daran, dass ich mich in meiner Rolle als einer seiner Starautoren wohlfühlte. Mitte Juli schickte er mich für eine Woche nach Berlin, all expenses paid . »Ich möchte, dass du dich vortastest«, erklärte er. » Keep an open mind , sei mit wachen Sinnen unterwegs. Es ist nicht so schlimm, wenn du nicht sofort etwas schreibst, du bist meine Investition in die Zukunft.« Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, ohne dass ich ihn gefragt hätte, mein Honorar um 200 Mark pro Seite zu erhöhen.
Die Woche in Berlin entwickelte sich zu einem Fehlschlag. Im Sommer des Vorjahres hatten Eva und ich auf dem Rückweg von Onkel Cedrics Villa in Marbella ein paar Tage in Westberlin verbracht, waren durch Kreuzberg spaziert, hatten uns gegenseitig an die Mauer gelehnt fotografiert und es genossen, zusammen zu sein. Jetzt wurden die Erinnerungen übermächtig, ich war blockiert und brachte nichts zuwege, saß die meiste Zeit in Cafés am Kudamm, las Zeitungen und gab mich Tagträumen hin.
Als ich nach Helsingfors zurückkehrte, war ich rastlos und verbrachte einen Tag in der stillen Universitätsbibliothek, wo ich auf der Suche nach Artikeln über das Verschwinden Ariels und des gefürchteten Hurme in alten Zeitungsjahrgängen blätterte. Ich beschränkte mich auf den Herbst 1969 und den Winter 1970, und in den weniger anspruchsvollen Wochenzeitungen fand ich einige spekulative Reportagen, in denen man die mysteriösen Vorgänge aufbauschte und unverblümt über die wiederholten Abrechnungen in der Stockholmer Unterwelt schrieb. In den Tageszeitungen gab es dagegen herzlich wenig, in Helsingin Sanomat fand ich gar nichts, und Hufvudstadsbladet hatte damals nur einen kurz gefassten Zweispalter mit einer sperrigen Schlagzeile gebracht: Polizei schließt einen Mord nicht aus: Finnische Männer mit Slussen-Verbindung in Stockholm verschwunden .
Als ich aus der Bibliothek heimkam – ich war nach Tölö gezogen und wohnte nur einen Katzensprung vom Tölö torg entfernt –, legte ich Geh nicht einsam in die Nacht auf. Es war das erste Mal seit langer Zeit, aber ich merkte wie früher, je öfter ich Ariels Lied hörte, desto besser gefiel es mir.
Manche Lieder sind so, sie wachsen in einen hinein. Oder man wächst in sie hinein. Denn wenn einen etwas anrührt, wer kann dann schon sagen, was sich bewegt und was stillsteht und annimmt? Wenn wir voneinander berührt werden, dann gibt es doch keinen, der eindeutig gibt, und keinen, der eindeutig nimmt? Ich weiß nicht, was die Schlösser in uns Menschen öffnet. Wüsste ich es, würde ich das schönste Lied der Welt schreiben und anschließend schweigen. So wie Ariel es tat.
* * *
Dann kam der Abend, an dem ich wieder in Manners Wohnung eingeladen war. Es war ein Samstag Mitte Juli, und diesmal waren wir allein, wir wollten in die Sauna gehen, gut essen und trinken, uns über große und alltägliche Themen unterhalten. So hatte Manner es dargestellt, die Initiative war allein von ihm ausgegangen: »Wollen wir das Metropol nicht mal einen Abend vergessen und es lässig angehen? Die Bräute laufen uns schon nicht weg.« In solchen Augenblicken hörte man, dass Manner auf die vierzig zuging. Keiner in meiner Generation war »lässig«, und keiner sagte »Bräute«, wenn er Frauen meinte.
In der ersten Phase des Abends sprachen wir ziemlich viel über KYVYT und meine Zukunft in der Redaktion. Manner sprach es nicht offen aus, ließ es aber zwischen den Zeilen durchblicken: Sollte sich ihm die geringste Chance bieten, seinen stellvertretenden Chefredakteur Linnusmäki loszuwerden, würde er mir die Stelle geben. Im Laufe des Abends tranken wir immer mehr, und Manner unterhielt mich mit Anekdoten aus seiner Zeit als Minister. Während sich die Nacht herabsenkte, wurden Manners Anekdoten immer persönlicher und ernster, und nach Mitternacht waren sie keine Anekdoten mehr, sondern nackte und enthüllende Momentaufnahmen aus einem im Grunde ziemlich einsamen Leben. In einer von Manners Geschichten war er – er meinte sich zu erinnern, dass es im Frühjahr 1973 passiert war, schien sich aber nicht ganz sicher zu sein – an einem windigen Tag im März auf dem Weg über die Långa-Brücke gewesen. Er wollte seine Mutter besuchen und hatte
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