Geh nicht einsam in die Nacht
selben Ort, da wir wussten, dass die Klatschpresse uns mit Haut und Haaren verschlungen hätte, falls die Wahrheit herausgekommen wäre. Trotzdem empfand ich unsere Beziehung weder als schmierig noch zynisch. Ich mochte Natalie, und wir hatten auch dann viel Spaß zusammen, wenn wir nicht vögelten, sogar das Versteckspiel fand ich anfangs spannend.
Natalie war eine Entertainerin und ihr Gatte ein gewiefter Geschäftsmann mit offenen Sympathien für die Konservativen. Die meisten von Natalies Freunden gehörten dagegen politisch der Linken an, ihr Bekanntenkreis ließ sich am ehesten als »leftist chic« charakterisieren. Sie und ich konnten natürlich nicht gemeinsam verreisen, aber manchmal fuhr ich alleine in eine Stadt, in der sie auftrat, und tauchte dann rein zufällig an ihrem Tisch in dem Restaurant auf, in das sie und ihr Gefolge nach der Vorstellung oder dem Konzert gegangen waren. Als mein Alibi musste häufig mein Einakter Aufsicht herhalten. In größeren Städten mit mehreren Theatern konnte ich die Rolle des jungen Dramatikers spielen, der zufällig in der Stadt war, um unter großer Diskretion über eine mögliche Inszenierung seines Stücks zu verhandeln.
Über Natalie und ihre Freunde kam ich jedenfalls wieder in Kontakt mit der Generation der Neonröhren. Viele Jahre hatte ich nichts mehr mit ihnen zu tun gehabt, musste nun jedoch erkennen, dass der Fluch der frühen Jugendjahre ungebrochen war: Sosehr ich mich auch mühte, ich verstand mich einfach nicht mit ihnen, obwohl ich es wirklich versuchte.
Die Motive der stalinistischen Intelligentia hatten sich mir nie erschlossen, ihre frühere Begeisterung für die Sowjetunion hatte ich als eine unbewusste Revolte gegen die Vätergeneration unserer Kriegsveteranen gedeutet, aber auch als etwas schwer zu Fassendes, als eine absurde Grimasse aus einem noch unaufgeführten Theaterstück von Mrożek oder Ionesco. Die kriegerischen Hymnen des Bürgertums waren mir wirklich zuwider, aber ein Lied wie Onkel Lenin wohnt in Russland fand ich genauso furchtbar. Es wurde von einem Kinderchor gesungen, und der Zuhörer erfuhr darin unter anderem, dass Onkel Lenin eine so hohe Stirn hatte, dass ganze Länder auf ihr Platz fanden. Aber abgesehen von ihren politischen Verirrungen waren viele dieser Neonröhren große Künstler. Ich verehrte ihre unpolitischeren Lieder, Gedichte und Romane und benahm mich häufig wie ein Groupie mit leuchtenden Augen, wenn ich an ihrem Tisch saß. Und blamierte mich regelmäßig.
Als Natalie ein Sommerkonzert in Tammerfors gegeben und ich mich zu ihrer großen und ausgelassenen Entourage gesellt hatte, ergab es sich so, dass ich einen ganzen Abend neben der legendären Sängerin Päivikki Huusko saß. Sie war bereits Mitte der sechziger Jahre mit dem bärtigen Markku Pyhtälä bekannt geworden. Das Folkduo Markku & Päivikki hatte die Ballade Wenn Frieden in dein Herz einkehrt aufgenommen, eines der beliebtesten Lieder der finnischen Popgeschichte, und einige Jahre später hatte Päivikki solo einige der schönsten Liebeslieder der finnischen Linken eingespielt, komponiert von Kaj Chydenius und mit Texten von gefeierten Dichtern. Doch Päivikkis Karriere hatte ihren Zenit längst überschritten, und nach dem Essen saß sie neben mir und stierte finster in einen bunten Drink: Ich weiß noch, dass das Getränk aus einer roten, einer blauen und einer gelben Flüssigkeitsschicht bestand und sich ein gestreifter Strohhalm und ein grünes Papierschirmchen darin befanden. Ich grübelte, wie ich meine Bewunderung am besten zum Ausdruck bringen könnte, nahm schließlich all meinen Mut zusammen und erklärte, Wenn Frieden in dein Herz einkehrt sei eines der schönsten Lieder, die in Finnland jemals aufgenommen und gesungen worden seien. Paivikki blickte von ihrem Drink auf, stierte mich an und erwiderte: »Hör mal, du Grünschnabel, ich habe fast dreißig Platten gemacht. Und das ist ein völlig überschätzter Song. Außerdem hat sich dieser verdammte Pyhtälä allein als Komponist angegeben, obwohl er genau weiß, dass der Refrain auf mein Konto geht!« Ich hatte mir vorgestellt, dass Päivikki und ich zunächst wegen unserer gemeinsamen Liebe zur Musik enge Freunde werden würden, damit ich sie anschließend fragen konnte, ob sie ein vergessenes Lied mit dem Titel Geh nicht einsam in die Nacht kannte, aber nach dieser Abfuhr wagte ich es den restlichen Abend nicht mehr, sie noch einmal anzusprechen.
So erging es mir immer wieder,
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