Geh nicht einsam in die Nacht
Familiengrab gehen und eine Blume für Adriana niederlegen. Es lag nahe, dass der Impuls unseren Spaziergängen entsprang, die so oft am Friedhof vorbeiführten. Aber ich wusste es besser. Wir waren schon vor Nadias Geburt über die Halbinsel spaziert, und Eva hatte nie den Wunsch geäußert, auf den Friedhof zu gehen. Im Gegenteil, sie hatte ihn gemieden.
Eva hatte nie gerne über Adriana gesprochen und war auch jetzt nicht übertrieben mitteilsam, erzählte jedoch mehr als früher. Wenn wir vor den moosbewachsenen Grabsteinen standen, auf denen sich die ältesten Namen kaum noch entziffern ließen, weihte sie mich manchmal unvermittelt in eine Erinnerung aus Adrianas Wohnung ein. Die Schwestern hatten sich nicht sonderlich nahegestanden, dazu war der Altersunterschied zu groß gewesen, aber Eva hatte klare und heitere Erinnerungen daran, dass sie in ihrer Grundschulzeit nach Schulschluss in die Smedsgatan gegangen war, sie entsann sich, wie sie dort zwischen umherliegenden Kleidungsstücken und Make-up-Utensilien gesessen und mit Adriana Hausaufgaben gemacht hatte.
Eva betonte oft, sie habe ihre Schwester nicht besonders gut gekannt, Adriana habe sich in ihren letzten Lebensjahren in ihrer eigenen Welt befunden, einer Welt, zu der kein anderer Zugang gehabt habe. »In gewisser Weise hatte sie sich längst verloren«, meinte Eva einmal zu mir. Und trotzdem, gestand Eva nun, viele Jahre später, habe sie in den Jahren nach Adrianas Tod intensive Träume gehabt, schlimme Träume, in denen die beiden Schwestern zu einer gemeinsamen Reise aufbrechen wollten. Plötzlich habe Eva dann auf dem Bahnsteig gestanden, und der Zug sei bereits aus dem Bahnhof gerollt, und in einem Fenster habe Adriana ihr zugewunken, und ihr sei so schrecklich übel gewesen, ihr sei so übel gewesen, weil sie zu spät gekommen sei und mutterseelenallein auf dem Bahnsteig zurückgelassen worden sei, und vor dem Moment des Aufwachens sei alles schwarz geworden und sie in ein endlos dunkles Loch gefallen.
Manchmal frustrierte mich Evas nüchterne Haltung. An einem Sonntag wollten wir uns an der Edesviken treffen, es war Spätherbst, ein regnerischer Tag. Bevor ich aufbrach, hörte ich die Türklingel. Es war Eva, die von einem kräftigen Regenschauer überrascht worden war. Sie ließ den Kinderwagen im Treppenhaus stehen, der Plastikregenschutz hatte den Wagen trocken gehalten und Nadia gerettet. Eva war dagegen klatschnass und bat, sich von mir Kleidung ausleihen zu dürfen. Sie war nur zwei Zentimeter kleiner als ich, und wir waren beide schlank. Sie stiefelte in mein Schlafzimmer, wo sie bei offener Tür alles außer ihrem Slip auszog. Ihre Bewegungen sandten keine erotischen Signale aus, aber es erregte mich dennoch, sie so gut wie nackt zu sehen. Als der Schauer abgezogen war und wir unseren Spaziergang machten, brachte ich das Gespräch auf Sex und fragte Eva, wie sie ohne ihn zurechtkomme. Im Grunde wollte ich sie fragen, ob wir vielleicht wieder miteinander schlafen könnten, aber dazu war ich zu stolz. Das Ganze war natürlich Theater, wir spielten zwei einsame Menschen, aber ich hatte meine Affären, ohne Eva von ihnen zu verraten, und sie hatte ihre Affären, ohne sie mir zu verraten. Wir verstanden uns beide gut darauf, zu schweigen und zu verbergen. Mit wem oder welchen Männern sich Eva traf, erfuhr ich nie, mir sagte sie vielmehr, sie habe die Männer satt und begnüge sich mit dem batteriebetriebenen Freund in ihrer Kommodenschublade. Lindy Hongisto traf sie jedenfalls nicht, denn Lindy war wegen Drogenbesitzes verhaftet und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, und Eva wollte ihn um jeden Preis von ihrem Leben mit Nadia fernhalten.
* * *
In diesen Jahren war ich der heimliche Liebhaber einer bekannten Sängerin und Revuekünstlerin. Sie war sieben Jahre älter als ich, und ich möchte sie hier Natalie nennen, was nicht ihr richtiger Name war, weil Natalie mit einem erfolgreichen Unternehmer aus einer sehr berühmten Familie in Helsingfors verheiratet war – und immer noch ist. Natalie selbst gehörte zu einem legendären finnischen Künstlerclan, und zu Beginn unseres Verhältnisses war ich ständig nervös. Wenn Natalie und ich uns unter Menschen bewegten, taten wir so, als wären wir bloß flüchtige Bekannte. Ansonsten versteckten wir uns und trafen uns mal in gemieteten Sommerhäusern, mal in entlegenen Stadthotels, in denen wir im Voraus getrennte Zimmer reserviert hatten. Wir verabredeten uns nie zwei Mal am
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