Geh nicht einsam in die Nacht
Sprache auf der Straße und in Geschäften, und sie ertönte aus den überall laufenden Radios: Die finnischen Wörter fand er leicht, obwohl Lydia und er zu Hause meistens Schwedisch sprachen.
Ariel hatte damals noch nicht viele fertige Lieder. Aber ein paar gab es schon, und Geh nicht einsam in die Nacht gehörte zu ihnen, den Song hatte er bereits in dem Winter geschrieben, als er siebzehn war. Ein anderer war eine kleine Bagatelle auf Schwedisch mit dem Titel Ein Uhr nachts am Ufer von Hagnäs . Es sollten niemals viele werden, ein gutes Dutzend nur, und die meisten von ihnen schrieb er in den folgenden turbulenten Jahren.
* * *
Es gab keinen kühlen Beobachter in Jounis, Ariels und Adrianas Kreisen in jenen Jahren. Alles war Flucht, Hunger und Durst: Flucht vor dem Alten, Hunger auf das Neue, Durst auf Schönheit, auf Augenblicke eines gesteigerten Lebens.
Doch wenn jemand fähig gewesen wäre, sich zurückzuziehen und zu beobachten, hätte er oder sie gesehen, wie Adriana zwischen Jouni und Ariel oszillierte, wie sie sich mal zu dem einen, mal zu dem anderen hingezogen fühlte. Am Ufer der Djurgårdsviken im Sommer 1964 hatte sie mit Jouni geflirtet und sich über ihn geärgert, über seinen mangelnden Ehrgeiz und seine Neigung, zur Flasche zu greifen. Knapp anderthalb Jahre später, im Herbst, als Mitglied eines schön singenden Folktrios, dem noch ein Name fehlte, fühlte sie sich von Ariel angezogen, von seiner Sanftmut, seiner Fähigkeit, Lieder zu schreiben, und seiner Art, Frauen zu betrachten, als wären sie wunderschöne, nie zuvor gesehene Wesen, die gerade erst in einer fliegenden Untertasse von der Venus gelandet waren.
Und Jouni? Ihn mochte sie zu der Zeit nicht. Ihr missfiel seine Schroffheit. Ihr missfielen seine Sarkasmen. Seine Härte und sein Wille, zu siegen und niederzuschlagen, die sich inzwischen als Traum von einer Karriere im Dienste der Musik oder der Gesellschaft maskierten, schüchterten sie ein. Außerdem verdutzte es sie, wie wenig er sich für philosophische und religiöse Fragen interessierte, obwohl er so viel über Philosophie und Religion wusste. Jouni war gebildet, schien jedoch von den großen Lebensfragen manchmal völlig abgeschnitten zu sein. Dann wurde er zynisch und boshaft: Fast hatte man das Gefühl, als lugte der alte Jouni, der Gewalttäter und Nihilist, hervor.
Jahrelang hatte Adriana sich so verhalten. Wenn sie sich von Jouni angezogen fühlte, ärgerte sie sich über Ariel, und ein paar Monate später war es umgekehrt. Aber sie war mit keinem von beiden zusammen. Ihre Liebesaffären hatte sie woanders, und weder Ariel noch Jouni wussten davon.
Das Alte, vor dem Adriana floh, war nicht das Gleiche wie das, was Ariel zur Flasche greifen und sich fortträumen und Jouni beharrlich vorwärtsstreben ließ.
Wenn sie probten und eine Pause machten und Ariel sich eine Zigarette anzündete und die Augen schloss und sich entspannte, lag er manchmal plötzlich in seinem schmalen Bett neben der Kochnische in der Rödbergsgatan, in jener Wohnung, in der Lydia und er früher gewohnt hatten. Es war Nacht, und es zog vom Küchenfenster her, und dann kam Lydia nach Hause und mit ihr der Mann, der vielleicht Björk hieß oder auch Näätänen oder Lindström oder Savikko, der manchmal nicht einmal zu einem Namen wurde. Stattdessen streckte Ariel den Hals in seinem Bett und warf einen kurzen Blick auf den kalten Mond, um danach die Augen zuzukneifen und die Finger in die Ohren zu pressen und zu versuchen, nicht zu hören, was hinter dem Wandschirm im Zimmer vor sich ging.
Jouni Manner hielt niemals inne. Das war sein charakteristischster Zug: Seine Rastlosigkeit schien in ihm eingraviert zu sein. An einem Tag im Spätherbst saßen er und Ariel im Tuulos und aßen jeder ein Brot mit Ei und Anchovis und tranken bitteren Kaffee dazu. Jouni hatte die letzte Nummer der Wochenzeitschrift Suomen Kuvalehti, Finnlands Illustrierte, gelesen und etwas gelernt. »Ich bin wie ein Hai«, sagte er zu Ariel. »Ich muss immer schwimmen, sonst sinke ich nach unten und sterbe.« Aber manchmal wurde dieser Hai im Schlaf überrumpelt. Dann saß er mit Elina alleine am Küchentisch und sah plötzlich nur noch ihre Hände, ihre hässlichen, wunden, schwieligen Hände. Bei anderen Gelegenheiten war der Traum viel undeutlicher. Es war dunkel und Nacht und still, aber dann passierte plötzlich etwas, es war immer noch dunkel, aber um ihn herum bewegten sich Menschen, sie bewegten sich heftig in der
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