Geh nicht einsam in die Nacht
ein gutes Hundertstel im Vergleich zu früher, die Preise mochten zwar ein klein wenig gestiegen sein, aber das ließ sich verschmerzen.
Wenn Elina Jouni und Oskari zuhörte, ließ sie sich beruhigen, und wenn sie zum Elanto-Geschäft ging und Lebensmittel für Summen wie 20 und 50 Pfennig kaufte, war das ein gutes Gefühl. Doch wenn das Krankenhaus ihr den nächsten Lohn auszahlte – seit dem Frühjahr 1962 war sie Angestellte in der Wäscherei des Aurora-Krankenhauses – oder sie für eine Näharbeit bezahlt wurde, regte sich erneut die Angst in ihr: Sie öffnete ihr Sparbuch und fühlte, wie sich eine kalte Hand um ihr Herz schloss, wenn sie sah, dass sich ihr kleines Sparguthaben in praktisch nichts verwandelt hatte. Und als Nächstes kehrten die Magenschmerzen zurück.
Als Elina es endlich gewagt hatte, sich einen Termin im Krankenhaus geben und sich röntgen und untersuchen zu lassen, sah Doktor Schroeder die Sache ausgesprochen gelassen. Schroeder las ihre Krankenakte, brummte gutmütig und erklärte: »Tja, Frau Manner, möglicherweise ein kleines Magengeschwür, verursacht durch schweres Essen und Alltagssorgen.« Daraufhin verschrieb er ihr eine zähflüssige Tinktur, die Elina in einer Arzneiflasche größeren Modells in der Apotheke abholte. Elina war angewiesen worden, die Tinktur morgens und abends einzunehmen, und der bloße Anblick der schweren braunen Flasche vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, sie fühlte sich gleich viel besser.
Ihre Söhne boten ihr zu der Zeit keinen Grund zur Sorge. Jouni hatte ihr immer Kopfzerbrechen bereitet, während Oskari der stille und folgsame von beiden gewesen war. Oskari hatte sich nie geprügelt und trieb sich auch nicht gerne auf der Straße herum. Er hatte sich auf Sportplätzen aufgehalten – im Hochsprung schaffte er 1,80 und beim Weitsprung fast sieben Meter – oder zu Hause gesessen und gelesen. Nun aber, da er fast erwachsen war, hatte er plötzlich beschlossen, Polizist werden zu wollen. Das amüsierte Elina ein wenig, denn Oskaris großer Bruder hatte jahrelang unter besonderer Beobachtung des lokalen Polizeidistrikts gestanden.
Aber Jouni hatte sich verändert, war ruhig und zielstrebig geworden. Er war zu Hause ausgezogen und wohnte bei einer entfernten Verwandten in der Åsgatan zur Untermiete. Die greise Witwe Toropainen war über mehrere Ecken mit Elinas Mutter verwandt, hatte eine nach hinten gelegene, geräumige Zweizimmerwohnung, wurde allmählich jedoch ein wenig gebrechlich und benötigte bei den schwereren Haushaltsarbeiten Hilfe: Jouni durfte gegen eine billige Miete in einem der Zimmer wohnen, und als Gegenleistung putzte er, brachte den Müll weg und ging einkaufen. Jouni hatte das Gefühl gehabt, zu Hause im Weg zu sein, und in den Monaten vor seinem Militärdienst hatte er zwei Jobs, bei der Abrissfirma und als Aushilfshausmeister im Stadtteil Alphyddan. Er zahlte nicht nur Miete bei Frau Toropainen, sondern gab auch Elina jeden Monat eine festgelegte Summe. »Ich komme doch so oft zum Essen nach Hause«, entgegnete er, als Elina protestierte, »außerdem weiß ich, dass du das Geld gut gebrauchen kannst.« Elina konnte es einfach nicht ablehnen, so freute sie sich darüber, wie sich Jounis Leben entwickelte: Er schien sich auch vor dem Alkohol zu hüten.
* * *
Jouni ärgerte sich lange über sein Verhalten an jenem Abend am Ufer der Djurgårdsviken. Nach diesem Vorfall ließ er Ariel und Adriana nie wieder Spuren jenes Jouni Manner sehen, den sie einst kennengelernt hatten: den Straßenjungen, den Raufbold, den Rowdy. Was ihnen in der Stadt zu Ohren kam, war etwas anderes, aber mit eigenen Augen würden sie ausnahmslos Selbstbeherrschung sehen. Außerdem sagte er sich, dass er niemals Schwäche zeigen, sich niemals anderen anvertrauen würde, denn das konnte sich später rächen.
Seinen Militärdienst absolvierte er in Sandhamn und hütete sich, positiv aufzufallen, da er keine Ausbildung zum Offizier durchlaufen, sondern ins Zivilleben zurückkehren wollte. In seinen Heimaturlauben lag er die meiste Zeit auf dem Bett und las Bücher, er hatte Geld gespart, um Frau Toropainen auch während seines Wehrdiensts Miete zahlen zu können. Als Jouni sich im September 1965 an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Helsingfors einschrieb, hatte er unter den angenommenen Studenten die viertbesten Noten vorzuweisen. Er war seit langem sein eigener Herr, er lebte wie ein Mann , sagte er sich, während Ariel und
Weitere Kostenlose Bücher