Geh nicht einsam in die Nacht
Dunkelheit und schrien und krakeelten, eine Stimme war schrill und eine andere grob, und Jouni setzte sich im Bett auf, und die grobe Stimme schrie ihn an, und plötzlich brannte es auf der Haut, seine Wange glühte, und er hätte am liebsten geweint, aber stattdessen hielt er ein Messer in der Hand und stach dorthin, wo er die grobe Stimme vermutete, und traf und stach noch einmal zu, er stach in alle Richtungen, und überall sank das Messer in Fleisch ein, und es wurde still, mucksmäuschenstill, schrill oder grob, sie waren alle tot und er der Schuldige, er kniete mit dem tropfenden Messer in der Hand auf dem dunklen, harten Fußboden und wartete darauf, dass die Polizei ihn und die Leichen fortschaffen würde.
Bei Adriana war es anders, säuberlich geordnet. Gut gekleidet und sorgsam manikürt. Still und ordentlich. Sichtbar wurde es höchstens als sinkender Pegel in einer Flasche in der Vorratskammer, hörbar war es nur als leiser, jammernder Ton, existierte es als eine verschwommene Melancholie. Trotzdem: schmerzhaft. Es tat so weh, dass sie in ihrem Zimmer am Fenster stehen und aufs Meer schauen und acht Mal The Sound of Silence hören musste, ehe der Schmerz nachließ. People without speaking. Catherine Mansnerus, geborene Boehm, und ihre Augen, die sagten, dass sie nicht standesgemäß geheiratet hatte und sie im Leben nur Göran und seinen knallharten Entschluss hatte, wenn es keine Liebe gab, dann sollte wenigstens genügend Geld und alles andere da sein. People hearing without listening. Görans ernstes Gesicht, wie ein Porträt der Angst, zu fallen und seine Töchter zu enttäuschen. People writing songs that voices never share . Und Ehrfurcht. Wie sie diese ganze Ehrfurcht hasste! And no one dared. Am Morgen des Heiligabend an den Heldengräbern, Silvester an den Heldengräbern, Ostern an den Heldengräbern. Disturb the sound. An den Gräbern am Tag des Abiturs, an den Gräbern an den Geburtstagen der Toten, Großmutter Margits zittrige Stimme, die am Nationalfeiertag mit bebender Stimme die Nationalhymne sang. Of Silence . Görans jüngerer Bruder 1944 an der Front. Catherines Schwester bei den Bombenangriffen im Februar desselben Jahres. Eine ganze Kindheit an Gräbern. Der unerschütterliche Lauf der Sonne über dem Meer. Die Cinzanoflasche aus der Vorratskammer und wieder hinein. Fools said I . Im Radio läuten die Glocken das Wochenende ein. Catherines schwammiges Gesicht und Görans hartes. Nachrichten der Finnischen Nachrichtenagentur. You do not know . Und jetzt hat jemand eine nochnochnochgrößere Bombe gebaut, sie heißt Trinity-Monster Mir-Boy. Silence like a cancer grows . Und nach ihr wird alles still sein, so verbrannt und stumm und still. Hear my words.
Manchmal fanden Jouni und Ariel, jeder für sich, dass sie in Adriana etwas irgendwie Schiefes erblickten. Aber sie sprachen so gut wie nie darüber. Ein einziges Mal ließ Ariel Jouni gegenüber eine Bemerkung fallen: »Addi ist seltsam. Wenn man ihr etwas Trauriges erzählt, fängt sie manchmal an zu kichern. Und wenn ich ihr Witze erzählt habe, hat sie ein paar Mal angefangen zu weinen. Am nächsten Tag ist sie dann wieder völlig normal.« Jouni erwiderte darauf nichts. Über solche Dinge zu sprechen war schwierig.
* * *
Sie übten immer öfter, probten schon mehrmals wöchentlich. Das brachte sie voran, sie wurden immer besser. Ihr Repertoire war moderner geworden, und sie bekamen ihre ersten Auftritte. Den allerersten hatten sie im Schwedischen Lyzeum, wo sich jeden vierten Donnerstag eine Gruppe von Folk-Enthusiasten im Schulkeller traf. Dieselben Enthusiasten versammelten sich zudem in einem Jugendzentrum im Vorort Munkshöjden: Dort traten Jouni, Ariel und Adriana Ende November auf. Außerdem sangen sie jeden zweiten Dienstag in einem abends geöffneten Café in der Elisabetsgatan, Anfang Dezember sangen sie in der Finnischen Handelshochschule und in der Neuen Schwedischen Lehranstalt, und kurz vor Weihnachten nahmen sie an einem Galabend im Alten Studentenhaus teil. Dagegen lehnten sie das Angebot ab, im Kerho zu singen. »Zum Teufel, die bringen uns doch um!«, sagte Jouni, womit er sicher nicht ganz Unrecht hatte. Das Kerho zog kurz geschorene und gewaltbereite Burschen aus den Berufsschulen und Fabriken an, und Jouni und Ariel hatten bereits eine Beatlestolle, ja, mehr als das: Sie bekamen allmählich richtig lange Haare und trugen farbige, gestreifte Hemden. Adriana hatte sich noch stärker verändert, ihre braune
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