Geheime Macht
anpassungsfähiges Virus«, sagte Doolittle. »Wenn der Körper immer wieder auf die gleiche Weise verletzt wird, reagiert es darauf. In kälteren Klimazonen wächst Gestaltwandlern ein dichteres Fell. Wenn sie häufig der Sonne ausgesetzt sind, bildet die Haut mehr Melanin.«
»Ja.« Ich wusste das alles.
Doolittle beugte sich zu mir vor. »Der erwähnte Junge entwickelte seine eigenen Anpassungsstrategien. Seine Knochen heilten extrem schnell. Sein Körper gab ihm das nötige Werkzeug, um sich vor den nächsten Prügeln in Sicherheit bringen zu können.«
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte ich.
»Darum wollen wir uns im Moment keine Sorgen machen«, sagte Doolittle. »Ich möchte dir ein paar sehr private Fragen stellen. Möchtest du, dass Raphael bleibt oder geht? Sag nur ein Wort, dann werfe ich ihn raus.«
Raphael fletschte die Zähne.
»Er kann bleiben«, sagte ich.
»Wurdest du in deiner Kindheit körperlich misshandelt, Andrea?«, fragte Doolittle behutsam.
Ich schluckte. »Ja.«
»Über einen längeren Zeitraum?«
»Elf Jahre.«
Doolittle nahm meine Hand und drückte sie leicht. »Unter Stress verheilen deine Knochen sehr schnell. Der Körper fügt sie in kürzester Zeit zusammen, ohne zu berücksichtigen, ob sie korrekt ausgerichtet sind. Er versucht einfach nur, dich wieder einsatzbereit zu machen.«
Ich blickte auf meine Schulter. Sie fühlte sich irgendwie nicht richtig an. »Du musst meinen Arm noch einmal brechen?«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Doolittle. »Der Arm ist krumm. Versuch, ihn ganz nach oben auszustrecken.«
Ich hob den Arm. Ein stechender Schmerz durchfuhr den Knochen.
»Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, ihn wieder zu richten«, sagte Doolittle.
Eine Gestaltwandlerin schob einen Rollwagen voller Instrumente an mein Bett.
»Du willst einen Hammer benutzen?«, fragte ich. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Doolittle eine Brechstange an meiner Schulter ansetzte und mit einem Hammer dagegenschlug.
»Nein. Ich werde eine kleine Motorsäge benutzen. Wir müssen dich betäuben. Ich verspreche dir, dass du nichts spüren wirst.«
»Okay.« Was sonst hätte ich sagen sollen?
*
Der Nil schwappte um meine Fußknöchel. Ich verließ das lauwarme Wasser und trat ans Ufer. Der Wind wehte den schneidenden Geruch nach Blut heran. Irgendwo in der Nähe wartete ein frischer Kadaver.
Es raschelte im dunkelgrünen Gebüsch. Der Schakal tauchte daraus auf und schleifte einen toten Bullen am Genick mit sich. Der Schakal war seit unserer letzten Begegnung gewachsen. Jetzt war er größer als ein Pferd, mit gewaltigem Kopf und Augen, die die Ausmaße von Kuchentellern hatten.
Der Schakal ließ den Bullen vor mir fallen. »Iss.«
»Nein.« Essen war für Gestaltwandler von großer Bedeutung. Liebespaare boten einander Nahrung an, und Alphas gaben ihrem Clan zu essen. Eine solche Offerte war häufig eine Liebeserklärung, aber in den meisten Fällen ein Schutzangebot, für das Loyalität erwartet wurde. Also war ich nicht bereit, irgendwelche Spenden von ihm anzunehmen.
»Wie du meinst.« Der Schakal biss in den weichen Bauch des Bullen.
»Wir helfen dir. Warum lässt du das Kind nicht frei?«
Der Schakal hob die blutige Schnauze. »Warum sollte ich meine Geisel aufgeben? Sie hat mir bisher gute Dienste geleistet.«
Ich setzte mich ins Gras. Die Sonne ging wieder unter, auf der stillen Wasserfläche schimmerte feiner Dampf. Das feuchte Schmatzen des Raubtiers hinter mir ruinierte die Schönheit der Landschaft.
»Warum tust du das?«, fragte ich schließlich.
»Mmm?«
»Was bezweckst du mit diesen Spielchen? Du hättest uns mit dem Draugr helfen können, aber du hast es nicht getan. Du hättest die Mitwirkung des Rudels gestatten können. Ein Sieg müsste doch in deinem Interesse sein.«
»Nein. Mein Interesse liegt darin, meinen Status als Gott wiederzuerlangen.« Der Schakal kam herbei und legte sich neben mich, ein Hügel aus Fell und Dunkelheit. »Weißt du, wie man zum Gott wird?«
»Nein.«
»Es beginnt mit einem Mythos.« Der Schakal seufzte. »Es beginnt mit einer Legende, die am Lagerfeuer erzählt wird. Einer Geschichte voller magischer Taten und ruhmreicher Siege über das Böse. Ich war dabei, als es mit mir begann, vor über sechstausend Jahren. Ich erinnere mich noch gut daran.«
»Wer warst du?«, fragte ich.
»Ein Stammeshäuptling«, sagte er. »Ich hatte eine Frau und viele Kinder. Ich rettete einen Wurf Schakalwelpen vor einer Flut,
Weitere Kostenlose Bücher