Geheime Macht
Glasmenagerie für abenteuerlustige Rudelmitglieder unter achtzehn Jahren verboten. Und das aus gutem Grund. »Du wirst sehen.«
Während die Straße nach Norden anstieg, änderte sich die Landschaft. Wir ließen die Ruinen von Lagerhäusern und die Vegetation hinter uns zurück. Hier kauerten die Hüllen ausgebrannter Häuser an den Straßen, und nur stellenweise gab es grüne Farbtupfer.
Als ich gezwungen gewesen war, im Orden die Stellung zu halten, hatte ich sehr viel Freizeit gehabt, in der ich Reiseführer gelesen und mich mit den Straßenplänen der Stadt vertraut gemacht hatte. Nach Feierabend war ich durch die verschiedensten Viertel von Atlanta gejoggt, in denen ich vielleicht irgendwann beruflich zu tun haben würde. In den Stadtführern wurde erwähnt, dass vor Jahren ein verheerender Brand im westlichen Teil von Atlanta gewütet hatte, der die älteren Wohngebiete nördlich der 402 vernichtet hatte. Das Feuer hatte mit einem intensiven, unnatürlichen Orangeton gebrannt und trotz starken Regens und vieler Bekämpfungsmaßnahmen fast eine Woche angehalten. Als es endlich vorbei war, konnte in der Gegend kein pflanzliches Leben mehr Fuß fassen. In anderen Teilen von Atlanta wurde jeder Flecken Erde sofort von Vegetation erobert, die wucherte, als wäre sie mit Steroiden vollgepumpt. Der Burn-out blieb ein Jahrzehnt lang unkrautfrei. Schließlich kehrten die Pflanzen doch zurück – hier wurde eine zerbröckelnde Wand von Kudzu geziert, dort ragten knallgelber und blutroter Löwenzahn – die ursprüngliche und die magisch mutierte Variante – zwischen den Haufen aus Backsteinen hervor.
Vor ein paar Monaten, während des Altweibersommers, hatten Raphael und ich unter einer riesigen Eiche außerhalb der Stadt gepicknickt. Ich hatte schon immer ein Picknick wie im Film machen wollen, mit rot-weiß karierter Decke und Weidenkorb. Wir aßen halbe Hähnchen, spülten sie mit Root Beer und Vanillelimonade hinunter und aalten uns auf der Decke. Ich hatte gelben und blutroten Löwenzahn gepflückt und daraus zwei Blumenkronen geflochten.
Jetzt kam mir das alles so albern vor. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich hatte mich wie ein liebestrunkenes zehnjähriges Mädchen aufgeführt.
»Warum hast du nicht einfach gegen Rebecca gekämpft?«, fragte Ascanio. »Du hättest auf jeden Fall gewonnen.«
»Natürlich hätte ich gewonnen. Selbst wenn sie Splittergranaten und Stahlmantelgeschosse gespuckt hätte, wäre sie mir unterlegen gewesen. Sie ist ein Mensch. Ich bin eine Gestaltwandlerin mit zehn Jahren Kampferfahrung und der besten Ausbildung, die man kriegen kann.«
»In der Natur muss man sich gegen Konkurrenz durchsetzen.«
In der Natur? Das hatte ich schon einige Male gehört. »In der Natur werden Hyänenwelpen mit offenen Augen und ausgewachsenen Zähnen geboren. Sobald sie aus der Gebärmutter heraus sind, fängt für sie der Kampf an. Sie graben Tunnel in ihrem Bau, die zu eng für erwachsene Tiere sind, und kämpfen dort miteinander. Etwa ein Viertel von ihnen erreicht nie das Erwachsenenalter. Wenn du in der Natur leben würdest und ein Zwilling wärst, müsstest du deine neugeborene Schwester oder deinen Bruder töten. Sollten wir alle Bouda-Babys in einen Laufstall sperren und sie hungern lassen, bis sie sich gegenseitig umbringen?«
Ascanio runzelte die Stirn. »Eher nicht …«
»Warum nicht? Es wäre natürliche Auslese. Genau wie in der Natur.« Ich rümpfte die Nase. »Boudas lieben dieses Argument, weil es ihnen einen Vorwand liefert, Dummheiten zu begehen. ›Es tut mir leid, dass ich deine Schwester gevögelt und meinen Penis in deinen Schäferhund gesteckt habe. Das ist meine Natur. Ich konnte einfach nicht anders.‹«
Ascanio schnaufte.
»Sei nicht so«, erklärte ich ihm. »Das ist ein beschissenes Argument. Wir sind keine Tiere. Und das ist gut so, weil es nicht die Hyänen waren, die die Welt erobert haben. Ja, ich weiß, dass es eine verdammte Ironie hat, weil ich in diesem Moment mit Fell und Krallen hier sitze, aber der menschliche Teil von mir hat immer noch die Kontrolle. Wir alle wissen, was geschieht, wenn unsere tierische Seite die Oberhand gewinnt.«
»Wir werden zu Loups«, sagte Ascanio.
»Genau.«
Der Loupismus war eine ständige Bedrohung. Ihm fielen fünfzehn Prozent aller Kinder von Gestaltwandlern zum Opfer, manchmal schon bei der Geburt, manchmal erst im jugendlichen Alter. Also war das Rudel gezwungen, sie möglichst human zu erlösen. Bei den Boudas
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